Das Übergewicht der Unterschiede

Ulrike Felt vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung schaut genau hin: Wann spielt Diversität in der medizinischen Praxis eine Rolle, wann bleiben Unterschiede unberücksichtigt? Am Beispiel Übergewicht illustriert sie das Spannungsfeld zwischen Kultursensibilität und Fremdzuschreibung.

"Alter, Geschlecht, ethnische oder kulturelle Herkunft machen in Bezug auf Gesundheitsrisiken oder gesundheitsbezogene Dienstleistungen einen Unterschied. Medizin und Forschung sind daher aufgefordert, der Diversität Rechnung zu tragen und kultur- und geschlechtssensible Zugänge zu entwickeln", erklärt Ulrike Felt vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Universität Wien.

In einer ethnographischen Studie analysieren die Sozialwissenschafterin und ihre MitarbeiterInnen Kay Felder und Michael Penkler anhand des Phänomens Übergewicht die medizinische Praxis: Wann spielen die Unterschiede eine Rolle und wann werden sie scheinbar unwichtig?

Essen ist kulturell geprägt

"Ausgangspunkt unseres Projekts war die hitzige Diskussion in Medien und Gesellschaft rund um Adipositas, also Übergewicht", so Ulrike Felt. Bereits in einem Vorgängerprojekt des ForscherInnenteams ging es um Übergewicht: BürgerInnen wurden befragt, was der Grund für veränderte Körperausprägungen sei und wo sie die Probleme sähen. "Da ist uns stark aufgefallen, dass sich die befragten Personen stets einer Gruppe – z.B. 'wir Nachkriegskinder' – unterordnen und von anderen Gruppen – z.B. 'die heutige Computergeneration' – abgrenzen. Essen ist kulturell geprägt und hängt mit bestimmten Lebensformen zusammen", fasst Felt zusammen.

In Spitälern, Forschungszentren und Beratungsstellen

Und genau dort setzen die ForscherInnen mit ihrem aktuellen Projekt an: In Kliniken, die auf Magenverkleinerungen spezialisiert sind, in Forschungseinrichtungen und Beratungszentren sind sie dem Zusammenhang von Adipositas und Diversität auf der Spur. "Wir wollen Diversität nicht im Vorhinein definieren, sondern uns anschauen, wie vor Ort mit Differenzen umgegangen wird, wie sie konstruiert und wann sie folgenreich werden", erklärt die Professorin und Dekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften.

Mit Methodik in die Praxis

Dafür gehen die WissenschafterInnen ganz praktisch an die Dinge heran: In den Kliniken haben sie ethnographische Feldarbeit durchgeführt und waren zum Beispiel bei Vor- und Nachbetreuungen zu Magenverkleinerungs-OPs dabei. Sie führten Interviews mit PatientInnen und Pflegepersonal, ErnährungswissenschafterInnen, PsychologInnen und einigen ÄrztInnen. "Bei den Präventionsprogrammen haben wir uns zusätzlich Informationsmaterialien und Websites angeschaut oder wohnten öffentlichen Veranstaltungen rund um Adipositas bei", erzählt Felt vom Prozess der Datenerhebung.

In dem Vorgängerprojekt "Perceptions and Imaginations of Obesity" untersuchten Ulrike Felt und ihr Team, wie Wissenschaft und Gesellschaft das "Problem Übergewicht" mitkonstruieren. U.a. hat sich der heutige Umgang mit dem Thema Essen als zentrale Komponente herausgestellt: "Früher wurde in Fabriken zur Mittagspause die Maschine abgedreht und gegessen. Heute machen wir so Mittagspause, dass die Arbeit nicht gestört wird. Wir finden hier eine Umkehrung der Logik: Bestimmt das Essen die Arbeit oder die Arbeit das Essen?", erzählt Felt.


Was Übergewicht mit Sprachzugehörigkeit zu tun hat

Aus der Analyse verschiedener Präventivprogramme berichten die ForscherInnen über die Anstrengungen von PsychologInnen, Unterschiede zwischen Personengruppen und damit verbundene Benachteiligungen adäquat zu adressieren ohne diese dadurch festzuschreiben: Etwa, dass Übergewicht bei deutschsprachigen Frauen oftmals als psychologisches Problem gehandelt wird, während Adipositas bei türkischsprachigen Frauen als Resultat mangelnden Wissens gilt. So werden für beide Gruppen unterschiedliche Problemlösungen gewählt – was wiederum die Gefahr birgt, Unterschiede als Wesensmerkale zu verstehen.

Die Schwierigkeiten, Differenzen in der Prävention zu benennen, werden an vielen Stellen sichtbar: "Vergleichbare Programme in den USA oder Großbritannien berücksichtigen die Faktoren 'Ethnicity' und 'Class', doch hierzulande wird – historisch gewachsen – derzeit vor allem mit Sprachzugehörigkeiten argumentiert", erklärt Ulrike Felt. So werden für verschiedene Sprachgruppen andere Präventivprogramme entwickelt – wobei der Begriff sprachliche Zugehörigkeit oft als Synonym für ethnische Zugehörigkeit verwendet wird, aber implizit auch eine Aussage über den sozio-ökonomischen Status machen soll.

Die Gefahr eines "einfachen" Diversitätsbegriffs

Für Felt sind die im Gesundheitsbereich vorgefundenen Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten ein klares Beispiel für die Notwendigkeit, sich kritisch mit der Rolle von kulturellen Imaginationen von Differenz auseinanderzusetzen. "Hier lassen sich viele implizite gesellschaftlich verankerte Vorstellungen, wie der oder die 'Andere' ist bzw. sein sollte, antreffen", erläutert die Forscherin: "Es illustriert auch die Gefahr, die ein zu starrer Diversitätsbegriff mit sich bringt: Unterschiede werden essenzialisiert und verstärken Fremdzuschreibungen."

Ulrike Felt, Professorin am Institut für Wissenschafts- und Technikforschung, ist dem Zusammenhang von Diversität und Adipositas auf der Spur.

"Ein Germteig voller Fragen"

Schmunzelnd bezeichnet die Sozialwissenschafterin Ulrike Feld ihr aktuelles Projekt als "Germteig, der immer weiter aufgeht": "Je mehr wir uns in das Thema vertiefen, desto mehr Fragen tauchen auf", sagt sie. Ihr Germteig enthält viele Zutaten: von Mediendiskursen und Zeiterzählungen bis hin zu Lebensentwürfen und gesellschaftlichen Normen. Ulrike Felt kann und möchte mit ihrer Forschung keine konkreten Modelle für einen kultursensiblen Zugang generieren, sondern vielmehr zu einem reflexiven Umgang mit Diversität anregen: "Wir dürfen uns nicht hinter Schlagworten verstecken, sondern müssen in jeder konkreten Situation neu nachdenken, was hier mit Diversität gemeint ist." (hm)

Das Projekt "From Lab to Intervention and Back – Doing and Undoing Diversity in Obesity Research, Treatment and Prevention" von Univ.-Prof. Dr. Ulrike Felt, Kay Felder, MA und Mag. Michael Penkler vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung der Fakultät für Sozialwissenschaften läuft von Mai 2012 bis April 2016 und wird vom WWTF gefördert.