Japan: Katastrophen durch die Zeit

Mangelndes Demokratieverständnis oder Fehlen einer Zivilgesellschaft? Susanne Formanek analysiert in ihrem Artikel Vorurteile europäischer Medien gegenüber Japan, sowie japanische Reaktionen und Bewältigungsstrategien, u.a. am Beispiel des großen Edo-Erdbebens und seiner medialen Aufarbeitung.

Das große Tōhoku-Erdbeben vom 11. März 2011 hat der Welt, nur 16 Jahre nach dem verheerenden Kōbe-Erdbeben von 1995, erneut drastisch vor Augen geführt, dass Japan eines der erdbebengefährdetsten Gebiete der Welt ist. Wegen seiner Insellage bedrohen Japan auch regelmäßig seismisch bedingte Tsunamis. Vor einem Jahr resultierte eine ungeheure Flutwelle mit einer Höhe von bis zu 40 Metern jedoch zusätzlich zu den "konventionellen" Verwüstungen in einer mit dem Reaktorunglück von Tschernobyl vergleichbaren Atomkatastrophe.



Standbild der Reportage über den Tsunami vom 11. März 2011 im japanischen Fernsehsender NHK.



Dass die hiesigen Medien im Zusammenhang mit Japan gern auf altbekannte Stereotype zurückgreifen, wurde an ihrer Berichterstattung zu dieser Triple-Katastrophe überdeutlich. "Erwähnen Sie, dass die Arbeiter im Atomkraftwerk dazu erzogen wurden, für Japan zu sterben", lautete die Anweisung an einen Mitarbeiter einer japanologischen Forschungseinrichtung vor der Aufzeichnung eines Interviews. Er hielt sich nicht daran, und nur 15 Sekunden des Gesprächs wurden ausgestrahlt. Stattdessen hörte man viel von der Schicksalsergebenheit, mit der Japaner angeblich Katastrophen begegnen.

Unterstellung: Fehlen einer Zivilgesellschaft


In den europäischen Medien verdrängte die atomare Katastrophe rasch das Interesse an den anderen Tsunami-Schäden, und die Tatsache, dass die Japaner vor dieser atomaren Bedrohung nicht massenhaft aus dem Land flüchteten oder die Regierung augenblicklich stürzten, führte alsbald zu Unterstellungen eines mangelnden Demokratieverständnisses oder des Fehlens einer Zivilgesellschaft in Japan. "In Japan nennt man die Dinge nie gern beim Namen, das zeigte sich bei den Mitteilungen der Regierung zum Reaktorunglück in Fukushima", war da beispielsweise in einem deutschen Artikel zu lesen, der als Beleg für eine postulierte japanische Mentalität, "sogar das Brutale der Natur zu verharmlosen" die berühmte "Welle" des Katsushika Hokusai von 1830 als verniedlichend-ästhetisierende Darstellung eines Tsunami missdeutete. 


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Tatsächlich berichteten die japanischen Medien anhaltend ausführlich und drastisch über die Katastrophenregion mit ihren 20.000 Toten oder Vermissten und den noch viel zahlreicheren Menschen, die ihre Existenzgrundlage durch den Tsunami und das Reaktorunglück verloren hatten. Letzteres hat in der Zwischenzeit zu einer genauen Überprüfung sämtlicher Reaktoranlagen und zu diesem Zweck zu ihrer zumindest zeitweiligen Schließung geführt - derzeit ist kein einziges der 54 japanischen Atomkraftwerke am Netz und entsprechende Stromsparmaßnahmen sind überall im Land wahrnehmbar.

Jahrhundertelange Tradition

Die mediale Auseinandersetzung mit (Natur-) Katastrophen hat in Japan eine mehrhundertjährige Tradition, die einen differenzierten Blick auf japanische Reaktionen auf Katastrophen in ihrem historischen Kontext erlaubt. Bis 1868 war es im feudalistischen Japan behördlicherseits verboten, öffentlich und vor allem in gedruckter Form über zeitgenössische Ereignisse zu berichten. Spätestens seit 1700 bewiesen findige Kleinunternehmer jedoch, auch wenn sie damit vorwiegend materielles Kapital aus den Katastrophen schlagen wollten, insofern Zivilcourage, als sie billige Flugblätter mit einfachen Darstellungen der Zerstörungen herstellten, die lautstark an den Straßenecken der Großstädte feilgeboten wurden.

Anlässlich eines verheerenden Erdbebens, das die Residenzstadt des Schogun, Edo oder das heutige Tokyo, im Spätherbst des Jahres 1855 erschütterte, erreichte die mediale Aufarbeitung einer Katastrophe in Japan einen ersten Höhepunkt mit dem Erscheinen hunderter verschiedener, teils aufwändiger Farbholzschnitte, die neben bildlichen Darstellungen auch viel Text enthielten.


"Die Unterwerfung des Welses" (Namazu taiji). (1855, Privatbesitz Wien)



Ihrer Ikonographie liegt meist die volkstümliche Vorstellung zugrunde, ein Riesen-Wels im Untergrund des Kashima-Schreins nordöstlich von Tokyo verursache durch seine Bewegungen Erdbeben, sofern die dortige Gottheit ihn nicht ruhig halte. Zunächst wurde dieser Wels als gemeiner Übeltäter dargestellt, an dem sich wütende Menschenmassen für das von ihm angerichtete Unheil rächen.


"Abfahrt des Schiffes mit den Reichtümern der Reichen" (Mochimaru takara no debune) (Foto: Miyata Noboru und Takada Mamoru (Hg.): "Namazu-e. Shinsai to Nihon bunka". Tokyo: Ribun shuppan 1995, Abb. 90)



Zudem steht der Wels für die Rache der Natur an ihrer Ausbeutung durch den Menschen, oder das von ihm ausgelöste Beben wird als Strafe des Himmels für menschliche Verfehlungen sowohl der Untertanen als bemerkenswerter Weise auch der Regierenden gedeutet. Zum Teil wird der Wels sogar zum Wohltäter, indem er eine Umverteilung gehorteter Reichtümer bewirkte: Die notwendig gewordenen Reparaturen und Neubauten von Häusern zwingen die Reichen, ihre Speicher zu öffnen und den ärmeren Schichten der kleinen Handwerker vermehrt besser bezahlte Arbeit zu geben. Durch dieses, wie man heute sagen würde, "Ankurbeln" der Konjunktur trägt das Beben auch zur Herstellung einer besseren, weil egalitäreren Gesellschaft bei.

Dr. Susanne Formanek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kultur- und Geistesgeschichte Asiens der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit den Arbeitsschwerpunkten japanische Mentalitätsgeschichte, Gestaltung des Lebenslaufs, volksreligiöse Praktiken sowie sozialhistorische Dimensionen des Holzblockdruck- und Verlagswesens im vormodernen Japan.