Götz Bokelmann: Was die Welt im Innersten auseinandertreibt

Erdbeben sind spätestens seit Fukushima wieder ins Bewusstsein der Europäer gerückt. Für Götz Bokelmann, seit Oktober 2010 Professor für Geophysik, bilden sie seit Jahrzehnten einen Forschungsschwerpunkt. Seit eineinhalb Jahren untersucht er nun den österreichischen Untergrund.

Die Universität Wien war für Götz Bokelmann, der in seiner wissenschaftlichen Karriere u.a. bereits an der amerikanischen Stanford University und der französischen Universität Montpellier tätig war, nach eigener Aussage schon immer attraktiv. Begeistert die meisten wohl der akademische Ruf, das wissenschaftliche Umfeld und auch die Stadt selbst, kommt bei dem gebürtigen Würzburger noch ein weiterer Aspekt hinzu, der die meisten Menschen wohl eher abschrecken würde: die Nähe zu Erdbeben. "Nicht nur die Alpen deformieren sich aktiv, auch in unserer Nähe gibt es seismische Gefährdungen – so gibt es nur 30 Kilometer von unserem Institut in der Althanstraße entfernt eine große Verwerfung, d.h. eine Bruchstelle im Gestein. Wien war im Jahr 1590 von einem schweren Erdbeben betroffen. Das wird irgendwann wieder passieren – darauf müssen wir uns einstellen. Hier gibt es für die Forschung viel zu tun."


Die Bewegung Wiens durch das Sumatra-Erdbeben vom 11. April 2012 (Magnitude 8.6), aufgezeichnet von einer seismologischen Breitbandstation der Universität Wien. (Grafik: IMG, Universität Wien)



Warum sind Erdbeben so beängstigend?


Während seiner Professur in Kalifornien von 1998 bis 2003 erlebte der 50-jährige selbst mehrere kleine Erdbeben mit. "Auch kleine Beben ohne Schäden sind fundamental beunruhigend", erzählt der Geophysiker aus eigener Erfahrung und erklärt: "Seit unserer Kindheit laufen wir auf der Erde auf dem festen Stein. Wir verlassen uns darauf, dass der Boden stabil ist. Wenn sich nun bei einem Erdbeben alles bewegt, dann kratzt das unser Selbstverständnis fundamental an, und es verunsichert extrem.

Regionale Forschung

"Unser Schwerpunkt in den nächsten Jahren liegt auf der Erforschung der hiesigen Gegend", erläutert der Vorstand des Instituts für Meteorologie und Geophysik und fährt fort: "Ein Ziel ist es, Erdbeben und andere geologische Phänomene durch neue Methoden und Geräte besser zu verstehen. Auch die Erdkruste Ostösterreichs, beispielsweise die Art, wie sie deformiert wird, und die zahlreichen Bruchzonen wie die Mur-Mürz-Verwerfung, werden wir genauer untersuchen. Bisher fehlt ein umfassendes geophysikalisches Modell der ganzen Umgebung – diese Lücke möchten wir schließen."



Topographie, Plattengrenzen (gelb) und langfristige Bewegung der Platten. (Grafik: IMG, Universität Wien)



Neben Erdbeben und der seismischen Gefährdung sind u.a. auch die Geodynamik und die Antriebskräfte der Plattentektonik weitere Schwerpunkte. In seiner Antrittsvorlesung am Mittwoch, 25. April 2012, im Kleinen Festsaal spricht er die jüngst aufgetretenen gigantischen Erdbeben im Indischen Ozean an, und wie diese mit der Verschiebung der Erdplatten zusammenhängen. Warum haben diese Beben, so anders als das verheerende Tsunamibeben acht Jahre zuvor, kaum Schaden angerichtet? Von welchen Kräften rühren die Verschiebungen der Erdplatten her? Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts vertrat der Geowissenschafter Alfred Wegener die Meinung, dass sich Kontinente relativ zueinander verschieben können. Warum konnte er die Menschen damals nicht überzeugen?


Alfred Wegener, Professor für Meteorologie und Geophysik an der Universität Graz, schrieb das bedeutende Werk "Die Entstehung der Kontinente und Ozeane". (Foto: Wikimedia)



Aufbau einer wissenschaftlichen Gemeinschaft


Die Vernetzung innerhalb der "geophysikalischen Community" in Österreich liegt Götz Bokelmann besonders am Herzen. "Bislang haben alle mehr oder weniger für sich gearbeitet, nun geht es darum, dass wir – ob WissenschafterInnen, IngenieurInnen oder VertreterInnen der Ölindustrie – unser Wissen und unsere Erkenntnisse, z.B. über das Wiener Becken, zusammenfügen."

Auch in der Lehre gäbe es noch einiges zu tun. "Unser Ziel ist die Einrichtung eines Masterstudiengangs", erklärt der neue Professor: "Ein Großteil der Studierenden geht später in die Industrie. Deshalb fände ich es wichtig, durch weitere Berufungen in diesem Forschungsbereich an die Universität Wien ein großes Spektrum abzudecken, um so breitgefächerte Kenntnisse vermitteln zu können. Wenn man vergleicht: In Kalifornien gibt es 75 Professuren für Geophysik, in Deutschland 56, in der Schweiz 16 und in Österreich gerade mal zwei. Ich würde mir wünschen, dass sich an diesen Relationen etwas ändert."

Von Frankreich bis Österreich – den Alpen auf den Grund


2014 soll ein internationales mehrjähriges Projekt zur seismologischen Erforschung der Alpen starten. Neben Österreich sind auch WissenschafterInnen aus Frankreich, Deutschland, Schweiz, Italien, Polen, Holland etc. beteiligt. Götz Bokelmann erklärt das internationale Projekt: "Wir bündeln einen Großteil der seismologischen Geräte Europas und decken damit den gesamten Alpenraum ab. Unser Ziel ist es, den Untergrund der Alpen zu erforschen. Mit unserem Know-how könnten wir dabei eine wichtige Rolle einnehmen. Das ist eine Chance für Österreich, bei entsprechender Unterstützung die hiesige Forschungslandschaft international zu platzieren."

Nicht nur beruflich, auch privat erkundet Bokelmann gerne seine Umwelt und genießt die Zeit in der Natur. So umwanderte er in den ersten Tagen nach seiner Ankunft in Wien einmal die komplette Stadt. Diese Neugierde beflügelt ihn auch bei seiner Arbeit: "Ich möchte verstehen, wie die Mechanik der Erde funktioniert. Wir können zwar noch nicht sagen, wann genau ein Erdbeben auftritt, aber wir wissen, wo Beben zu erwarten sind, und können schon im Vorfeld herausfinden, welche Schäden es verursachen wird. Hier passieren derzeit große Fortschritte." (mw)

Die Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Dr. Götz Bokelmann vom Institut für Meteorologie und Geophysik zum Thema "Deformation in der Erde. Von Erdbeben bis zur Plattentektonik" findet am Mittwoch, 25. April 2012, um 17 Uhr im Kleinen Festsaal statt.