"Der Stummfilm war nie stumm"

Zwischen Avantgarde und Kino – Lise-Meitner-Stipendiat Francesco Finocchiaro bringt ein bisher wenig untersuchtes Forschungsthema an das Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien: die Beziehung zwischen der neuen Musik und dem deutschsprachigen Kino in der Stummfilmzeit.

"Die Musiker des frühen 20. Jahrhunderts waren vom neuen Medium Film fasziniert – und das hat tiefe Spuren in ihrer Kunst hinterlassen." Der italienische Musikwissenschafter Francesco Finocchiaro geht in seiner aktuellen Forschung genau diesen Spuren nach und untersucht am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien die Beziehung zwischen der musikalischen Avantgarde und dem deutschsprachigen Film – von 1913/14 bis zur Machtübernahme Hitlers im Jahre 1933.

Live-Musik im Kinosaal

Finocchiaro untersucht somit Filme der deutschen Stummfilmepoche und des frühen Tonfilms; die ersten Tonfilme kamen erst Anfang der 1930er Jahre allmählich nach Europa. Doch: "Der Stummfilm war nie stumm", weiß der Musikwissenschafter. Denn: Bei Filmvorführungen wurde die Musik live eingespielt, sogar die frühen Filmwerke der Brüder Lumière hatten schon eine musikalische Begleitung.

In Vergessenheit geraten

Sein aktuelles Projekt widmet Finocchiaro einem bisher wenig erforschten Thema in der Musikwissenschaft und analysiert einen Korpus von Originalkompositionen und Dokumenten, die zur Rekonstruktion dieser komplexen und wenig bekannten Beziehung beitragen sollen. "Die Kompositionspraxis der Musikbegleitung war schon Mitte der 1920er Jahre gut entwickelt und hatte eine eigene Ästhetik. Das mangelnde Interesse der Musikwissenschaft hat jedoch mit sich gebracht, dass Spezialisten der Filmmusik im Laufe der Jahre in Vergessenheit geraten sind, so zum Beispiel Gottfried Huppertz, der die Musik zum Film "Metropolis" komponiert hat, oder Hans Erdmann, der die Partitur zu "Nosferatu" schrieb.

"Aus diesem Grund wurde auch die komplexe Beziehung von Protagonisten der musikalischen Avantgarde wie beispielsweise Arnold Schönberg, Alban Berg oder Paul Hindemith mit der Filmmusik bzw. dem Film als ästhetisches Phänomen unterschätzt", ergänzt Finocchiaro.

Die kinematographische Sprache in der Musik

Finocchiaro interessiert sich für eben diese Musiker, die eigene Filmbegleitungen komponierten. Er legt sein Augenmerk aber auch auf jene Künstler, die nur eine "vorsichtige Annäherung an den Film wagten." Dazu gehören Alban Berg und Arnold Schönberg, beide Vertreter der Wiener Schule. Sie haben nie Musik für einen bestimmten Film komponiert, aber sehr wohl die kinematographische Sprache rezipiert und in ihrem Werk aufgenommen: "Berg hat ein filmisches Zwischenspiel in die Oper 'Lulu' integriert, und Schönberg komponierte eine Begleitmusik für eine imaginäre Lichtspielszene, die real nie existiert hat", so Finocchiaro.

Deutscher Film – "musikalischster" Film?

Umgekehrt spielt aber auch die Musik in der Dramaturgie des deutschen Autorenfilms eine Rolle. Der Begriff "abstrakter Film", wie er häufig in Diskussionen um das Kino der 1920 Jahre verwendet wird, ist gänzlich aus der Musikästhetik abgeleitet. Die Filme reproduzierten nicht die Realität, sondern eine abstrakte Kombination von Formen, Linien und Farben; das Vorbild der neuen Syntax war die Musik. "Die Protagonisten des abstrakten Film sprechen nicht zufällig von Kontrapunkt, Rhythmus, Klangfarben usw. Für mich ist der deutsche Film der musikalischste Film von allen", so Finocchiaro von der Universität Wien.

Francesco Finocchiaro forscht im Rahmen des Lise-Meitner-Programmes an der Universität Wien. Das Stipendium richtet sich an hoch qualifizierte WissenschafterInnen aus dem Ausland und hat zum Ziel, internationale Kontakte zu knüpfen und das wissenschaftliche Know-how der österreichischen Scientific Community zu stärken.
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Zwischen den "alten" und den "neuen" Künsten

Der Musikwissenschafter hat die Epoche des Autorenfilms nicht zufällig als Ausgangpunkt ausgewählt: In dieser Zeit erfährt der deutsche Film einen Wendepunkt. Der Film, damals nur eine Attraktion für die Masse, wird zu einem Kunstprodukt. Diese Veränderung fasziniert nicht nur Musiker, auch Schriftsteller wie Hofmannsthal, Musil oder Schnitzler nehmen an diesem "künstlerischen Nobilitationsprozess" teil.

"Es herrschte eine Medienkonkurrenz, ein Spannungsfeld zwischen den 'alten' und den 'neuen' Künsten und es entstanden wechselseitige Kombinationen mit Bild, Literatur und Theater. Zum einen in Form eines Medienwechsels, in dem ein Werk aus seiner ursprünglichen medialen Form in das neue kinematographische Medium übertragen wurde – z.B. Literatur- und Operverfilmung. Zum anderen in Form einer Medienkombination, in der stilistische Merkmale mehrerer Medien kombiniert wurden – wie etwa die szenischen Collage in der Oper", erklärt der Lise-Meitner-Stipendiat.

Von Bologna nach Wien

Der italienische Musikwissenschafter kam 2012 an die Universität Wien, war aber bereits seit 2003 in Österreich, da er zu Arnold Schönberg und der musikalischen Avantgarde dissertierte: "Mir war klar, dass meine Forschungsthemen nur hier erforscht werden können. Danach war es eine Mischung aus Umständen – eine Faszination für die Stadt, das musikalische Leben Wiens, aber auch Verfügbarkeiten und Möglichkeiten im akademischen Bereich. Diese Kombination hat mich nur scheinbar zufällig aus Bologna nach Wien gebracht", schmunzelt Finocchiaro.

Das Projekt "Neue Musik und deutschsprachiges Kino: 1913-1933" von Dr. Francesco Finocchiaro vom Institut für Musikwissenschaft der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien wird im Rahmen des Lise-Meitner Programms vom FWF gefördert und läuft vom 1. Juli 2013 bis 30. Juni 2015.