Die fast vergessene Front

Zwischen Sommer 1914 und Frühjahr 1918 kämpften mehr als die Hälfte der österreichisch-ungarischen Soldaten gegen Russland. In seinem Gastbeitrag geht Historiker Richard Lein diesem - zeitgenössisch als Nordostfront - bezeichneten Kriegsschauplatz nach.

Grundsätzlich hatte das Zarenreich bereits vor Kriegsausbruch in den militärischen Planungen der Habsburgermonarchie eine große Rolle gespielt, wurde die russische Armee doch vor allem aufgrund ihrer numerischen Überlegenheit als überaus gefährlicher Gegner eingeschätzt, mit dem eine Konfrontation möglichst vermieden werden sollte. Für den Fall, dass es doch zu einem Krieg gegen Russland kommen sollte, sah der österreichisch-ungarische Generalstab seine beste Option darin, die eigenen Truppen möglichst rasch an der Grenze zu Russland in Stellung zu bringen und die dort aufmarschierenden, noch nicht kriegsbereiten Verbände des Gegners gleich zu Beginn des Feldzugs entscheidend zu schlagen.


Richard Lein lehrt am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, wo er Geschichte und Politikwissenschaft studiert hat. 2006-2011 war er Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte und promovierte über "Das militärische Verhalten der Tschechen im Ersten Weltkrieg". Im Rahmen der Ringvorlesung "1914 und das östliche Europa" hielt er einen Vortrag zu den Kriegsvorbereitungen Österreich-Ungarns.



Pattsituation im Osten


Im Sommer 1914 scheiterte die militärische Führung der Habsburgermonarchie jedoch bei dem Versuch, den detailliert ausgearbeiteten Kriegsplan umzusetzen. Statt dessen mussten sich die österreichisch-ungarischen Truppen nach mehreren schweren Niederlagen und hohen Verlusten auf den Karpatenkamm zurückziehen, wodurch weite Teile Galiziens und der Bukowina vom Gegner besetzt wurden. Erst mit der Unterstützung deutscher Verbände konnte das österreichisch-ungarische Heer im Frühjahr 1915 eine erfolgreiche Gegenoffensive durchführen, in Zuge derer die russischen Armeen wieder fast zur Gänze vom Staatsgebiet der Habsburgermonarchie verdrängt werden konnten.


Das Bild zeigt russische Infanteristen im Jahr 1914 auf dem Vormarsch entlang einer Eisenbahnlinie.



Nach dieser kurzen Phase des Bewegungskriegs erstarrte die Frontlinie auf dem russischen Kriegsschauplatz jedoch schon bald und stand in weiterer Folge mit ihren sich über hunderte Kilometer erstreckenden, massiv ausgebauten Stellungssystemen und Stacheldrahthindernissen den Schlachtfeldern Frankreichs um nichts nach. Ähnlich wie an der Westfront fanden die Soldaten auch hier mitunter recht unterschiedliche Bedingungen vor, kam es doch in manchen Abschnitten immer wieder zu erbitterten Kämpfen, während sich die Kampftätigkeit in anderen Teilen der Front in engen Grenzen hielt. Versuche beider Seiten, das militärische Patt zu beenden, erbrachten zwar begrenzte Erfolge und geringe Gebietsgewinne, verursachten jedoch auf beiden Seiten hohe Verluste und vermochten letztlich nicht eine Entscheidung herbeizuführen.

1917 als Wendepunkt

Letztlich waren es keine militärischen Auseinandersetzungen, sondern die beiden Revolutionen des Jahres 1917, die Russland in den Zusammenbruch führten. Nach der Abdankung des Zaren vermochte die neu gebildete bürgerliche Regierung nicht den geschwächten Staatsapparat zu stützen, gleichzeitig endete eine letzte, als Befreiungsschlag gedachte Großoffensive im Sommer 1917 mit einer verheerenden Niederlage der russischen Armee und führte praktisch zu deren Auflösung. Der im Februar 1918 in Brest-Litowsk zwischen den Mittelmächten und der neuen bolschewistischen Staatsführung unter Lenin unterzeichnete Friedensvertrag setzte dem Krieg an der russischen Front schließlich auch offiziell ein Ende.

Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich zogen in Folge den Großteil ihrer Truppen aus der Region ab, um mit ihnen an der französischen bzw. italienischen Front eine Entscheidung zu ihren Gunsten zu erzielen, eine Hoffnung die sich letztlich nicht erfüllen sollte.

Spätes Gedenken


Ungeachtet der zentralen Rolle, die der russische Kriegsschauplatz während des Ersten Weltkriegs spielte, nahm er in der Erinnerungskultur lange Zeit nur eine eher untergeordnete Rolle ein. Während in Deutschland, Frankreich und Großbritannien das Gedenken ganz auf die Ereignisse der französischen Westfront konzentriert war, stand im Österreich der Zwischenkriegszeit das Gedenken an die Ereignisse an der Italienfront im Vordergrund. Dieser Umstand fand insbesondere in der älteren Historiografie ihren Niederschlag, die den russischen Kriegsschauplatz zumeist entweder völlig ausklammerte oder ihm nur eine untergeordnete Rolle einräumte. Erst seit einigen Jahren ist in diesem Zusammenhang eine Trendwende erkennbar, die sich durch die verstärkte Aufmerksamkeit, welche der Erste Weltkrieg im Rahmen des Gedenkjahres 2014 erhält, erfreulicherweise noch verstärkt hat.