Auf der Suche nach Alternativen in Syrien

Frau mit Kind in Syrien

Was braucht es, um in Syrien den Wiederaufbau zu beginnen? Helmut Krieger vom Institut für Internationale Entwicklung sieht diese Entwicklung auch als sozialen Prozess. Gemeinsam mit seinem Team erforscht er die Verbindungsstränge zwischen Krieg, Flucht und Wiederaufbau in Syrien.

Seit 2011 herrscht in Syrien Krieg, fast sechs Millionen Menschen sind außer Landes geflüchtet und mehrere Staaten sind für die militärischen Eskalationen der letzten Jahre mitverantwortlich. Das Land ist noch weit entfernt von einem Wiederaufbau, denn in einigen Regionen wird immer noch aktiv gekämpft. Vielerorts fehlt es am nötigsten – an der Wasserversorgung, Krankenhäusern oder Elektrizität. "Wenn man davon ausgeht, dass grundlegende Infrastrukturen nicht existent sind, dann fragt die Bevölkerung legitimerweise: Haben wir in diesem Land eine Zukunft?", berichtet Helmut Krieger.

Krieger arbeitet am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien und leitet das Projekt "Knowledge Production in Times of Flight and War – Developing Common Grounds for Research in/on Syria", das von der Austrian Development Agency (ADA) gefördert wird. Mit seinen Kolleg*innen analysiert er den Verlauf des Krieges, die Situation der syrischen Geflüchteten – besonders jener im Libanon – und die Möglichkeiten des Wiederaufbaus. Wiederaufbau verstehen die Forscher*innen dabei nicht nur als Wiederherstellung der Infrastruktur, sondern als sozialen, politischen und grundsätzlich gesellschaftlichen Prozess.

Sozialwissenschaftliche Forschung in Kriegsgebieten

Neben der Erforschung dieser Themen hat das Projekt das Ziel, sozialwissenschaftliche Methoden in Kriegsgebieten zu untersuchen und weiterzuentwickeln. Dazu bauen die Forscher*innen ein transdisziplinäres Netzwerk auf, das aus Universitäten und NGOs besteht, die in Europa, aber auch in Syrien, Palästina und dem Libanon angesiedelt sind. Das Netzwerk soll die Forschung vor Ort ermöglichen und unterschiedliche Perspektiven und Disziplinen vereinen. Auch in Zukunft soll es gemeinsam Projekte durchführen und das erarbeitete Wissen in Lehrveranstaltungen, Workshops und Trainingsprogrammen an Studierende weitergeben.

Kriegsgebiet

"Bestehende sozialwissenschaftliche Ansätze und Methoden der Feldforschung werden im Zuge von KnowWar neu gedacht: Sind sie für Konflikt- und Kriegsgebiete geeignet?" Wie sozialwissenschaftliche Forschung in Kriegsgebieten aussehen kann, erzählt Helmut Krieger auf der Societal Impact Plattform. (© KnowWar) 

Das Erbe der Kriegsjahre

Im Forschungsprozess führen Krieger und seine Kolleg*innen Interviews durch und erarbeiten gemeinsam mit Menschen vor Ort neue Erkenntnisse und Fragestellungen in Workshops und Besprechungen. Dabei interessieren sie sich besonders für die sozialen Prozesse, die einen Wiederaufbau ermöglichen könnten.

Stadt in Syrien

Das Team erforscht unter anderem die Sozialstrukturen in den Gemeinschaften der Geflüchteten sowie der im Land verbliebenen Syrer*innen – Sozialstrukturen, die sich im Lauf des Krieges verändert haben. "Die Kriegsführung des Regimes, aber auch der anderen Kriegsparteien ist darauf ausgerichtet gewesen, offensichtlich durch Vertreibungspolitik, Belagerungs- und Blockadepolitik eine neue, eigene, soziale Basis in verschiedenen Zonen zu schaffen", erklärt Krieger. (© Helmut Krieger)

Eines der Resultate dieser Politik ist eine fragmentierte und oftmals traumatisierte Zivilgesellschaft – sie besteht aus unterschiedlichen sozialen Gruppen, die sich ideologisch und religiös stark voneinander unterscheiden. "Die Fragmentiertheit der Communities und die Konfessionalisierung des Krieges haben tiefe Spuren hinterlassen. Aber das zu konstatieren ist das eine; Wege zu überlegen, wie das wiederum aufgebrochen und letztendlich zum Vorteil vieler gewendet werden kann – das ist die grundlegende Herausforderung."

Zukunftsperspektiven 

Die Voraussetzungen für eine Rückkehr von Geflüchteten sind in Syrien heute nicht gegeben. "Internationale Akteur*innen müssen aufhören, den Krieg zu befeuern und Syrien als Austragungsort eines Stellvertreterkrieges zu nutzen", sagt Krieger. "Die zweite Voraussetzung wäre, einen politischen Prozess in Gang zu setzen, der grundlegend demokratisch und inklusiv ist und die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in den Vordergrund rückt." 

UNHCR-Tonnen

Um einen Wiederaufbau zu realisieren, müssten Initiativen aus der Bevölkerung miteinbezogen werden, die sich grundlegenden Fragen wie jenen nach der Wasserversorgung oder dem Wiederaufbau von Schulen und Krankenhäusern widmen. (© Helmut Krieger)

Die Wiederherstellung der Infrastruktur und der Aufbau einer solidarischen Ökonomie sind Prozesse, durch die soziale und demokratische Werte realisiert werden könnten. "Wenn ein inklusiver sozialer Prozess ermöglicht werden würde, würde das einen politischen Raum öffnen – einen Raum der Selbstorganisierung."

Initiativen aus der Basis


Vereinzelt gibt es in syrischen Communities bereits Bewegungen, die sich vernetzen und versuchen, Alternativen umzusetzen. "Ich finde es unglaublich beeindruckend, dass es nach wie vor verschiedene Initiativen gibt, die ganz grundlegende solidarische Modelle entwickeln. Das bedeutet ja auch, das Moment der Demoralisierung, der Resignation und der Verzweiflung überwunden zu haben. Und das sind Momente, die auch in die Zukunft ausstrahlen werden", sagt Krieger.

Den sozialen Prozess des Wiederaufbaus zu erforschen ist einer der spannendsten Aspekte des Projekts, das noch bis 2021 läuft. "Mit zum wichtigsten gehört für mich, offen zu bleiben für die Erzählungen von Menschen, die unter diesen Bedingungen leben", sagt Krieger über seine Arbeit. "Aber auch der Forschungsprozess selbst motiviert mich: Die permanente Herausforderung, mit Kolleg*innen aus Räumen des Südens zu arbeiten; die Notwendigkeit, eigene Positionen grundlegend zu hinterfragen und die Entwicklung dessen, was ein transkultureller Raum der Kommunikation sein kann", fasst er zusammen. (abi)

Helmut Krieger

Helmut Krieger studierte an der Universität Wien Soziologie, Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaft. Anschließend lehrte er an der Universität Wien, der Johannes Kepler Universität Linz und am Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Seit 2019 ist er Senior Lecturer am Institut für Internationale Entwicklung der Uni Wien und seit 2018 leitet er das Projekt "Knowledge Production in Times of Flight and War". (© Alina Birkel)

Das Projekt "Knowledge Production in Times of Flight and War – Developing Common Grounds for Research in/on Syria (KnowWar)" unter der Leitung von Dr. Helmut Krieger ist am Institut für Internationale Entwicklung der Universität Wien angesiedelt und wird von der Austrian Development Agency (ADA) gefördert. Es läuft von Dezember 2018 bis November 2021.