Zuhause bleiben ist kein Urlaub
| 17. März 2020Brigitte Lueger-Schuster, Leiterin der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie der Universität Wien, erklärt, warum Homeoffice und E-Learning kein "Urlaub" sind und wie man mit schwierigen Situationen und Gefühlen rund um die Corona-Pandemie umgeht.
Bleiben Sie zuhause! Diese Empfehlung hat große Auswirkungen auf unser Leben – der Alltag verlagert sich in die eigenen vier Wände. Neben den üblichen Abläufen finden auch weitere Dinge zuhause statt: Lernen, Arbeiten, Freizeit. Das erfordert einiges an Selbstdisziplin, Planung und Umdenken, und zwar für alle Altersgruppen.
Es ist so eng hier!
In kleinen Wohnungen hat man wenig Möglichkeiten des Rückzugs. Wenn jemand eine Pause vom anderen braucht, sollte man ein Signal vereinbaren. Man könnte sich den Kopfhörer aufsetzen, ein Bad nehmen oder einfach sagen: Bitte lasst mich jetzt in Ruhe. Eltern könnten sich in der Betreuung ihrer Kinder abwechseln. Teleworking von zuhause erlaubt das. Sie könnten auch Ihre Wohnung strukturieren: eine Ecke für Arbeit und Lernen, eine Ecke für Freizeit, eine Ecke für die Kinder.
Alles ist besser als Gewalt
24 Stunden miteinander zu verbringen, bringt unweigerlich Konflikte mit sich. Versuchen Sie, der Situation mit Humor und Gelassenheit zu begegnen, oder versuchen Sie es mit Selbstdisziplin. Manche Paare teilen noch die Wohnung, aber die Liebe ist längst vorbei. Das ist für den Ablauf dieser besonderen Zeit mühsam und könnte gefährlich werden.
Oft reicht ein Satz und der Streit eskaliert. Bevor man den einen Satz sagt, bitte dreimal bis drei zählen, tief durchatmen, ruhig ein paar Mal wiederholen und dann den Satz zurückhalten. Sie tragen einen wesentlichen Teil dazu bei, diese Zeit erträglich zu machen, insbesondere, wenn Kinder im Haushalt leben. Wenn Sie das schaffen, werden diese Tage zwar sehr anstrengend, aber sie haben keine traumatisierenden Auswirkungen.
Sollte es so schlimm kommen, dass Sie die Aggression nicht mehr zurückhalten können, dann rufen Sie jemanden an, mit dem Sie Ihre Sorgen teilen können. Alles ist besser als Gewalt! Alkohol wird Ihnen nicht helfen, diese Impulse zu unterdrücken, ganz im Gegenteil.
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Mir ist langweilig!
Den Kindern ist fad, sie vermissen ihre Freunde – ja, das wird auf Sie zukommen. Die Abwechslungen des Alltags fehlen. Also muss Ersatz her, Spiele, Gespräche und Tagesstruktur helfen. Das heißt: Aufstehen wie gewöhnlich, dann Schulzeit mit den gewohnten Pausen. Wenn die Aufgaben erledigt sind, kann es Freizeit geben.
Freizeit – aber wie? Freunde anrufen, Bewegung, Spielen. Danach: Reden Sie mit den Kindern, fragen Sie, wie es ihnen geht, und sagen Sie ihnen, dass die meisten Gefühle und Sorgen jetzt wohl alle erleben. Und fragen Sie Ihre Kinder, wie sie den Alltag lieber hätten. Sie könnten dieses tägliche Gespräch z. B. Familienkonferenz nennen. Sie könnten Ihre Kindern auch mehr in den Haushalt miteinbeziehen. Auch könnten Sie den Kindern anbieten, sich für das tägliche Telefonat mit den Großeltern etwas Nettes auszudenken.
Ich vermisse meine Enkel
Ältere Menschen sind besonders gefährdet, sie sollten unbedingt zuhause bleiben und keinen Besuch empfangen. Natürlich werden Sie ihre Familien vermissen. Dem gilt es die Lebenserfahrung entgegenzusetzen. Viele schwierige Situationen wurden in einem langen Leben gemeistert, fast alle haben einen Weg gefunden, mit Verlust, Trauer, Belastung umzugehen. Das heißt: Man hat sehr viel Kompetenz, mit dieser Herausforderung umzugehen. Was hilft: Jeden Tag ein kleines Projekt vornehmen, eine Schublade in Ordnung bringen, die Fotos ordnen. Auch hier hilft ein geregelter Tagesablauf.
Wichtig ist es, die sozialen Kontakte mit Telefon & Co. weiterhin zu pflegen. Nehmen Sie Hilfe an. Und ja, Sie könnten erkranken, aber es muss nicht sein. Aber wenn Sie Sorge haben, dass Sie schwerst erkranken, dann regeln Sie alles so gut, dass Sie auch gut gehen könnten. Aber insgesamt: Tun Sie sich jeden Tag etwas Gutes, mit aktiven Phasen und Ruhephasen, bleiben Sie ruhig.
Das ist doch alles übertrieben!
Sie zweifeln, ob die Maßnahmen wirklich wichtig sind? Sie fühlen sich übergangen und das macht Sie grantig? Es könnte ein Abwehrmechanismus sein, mit dem Sie Ihre Sorgen wegstecken. Versuchen Sie sich zu entspannen.
Die einfachste Übung: bequem auf einen Stuhl setzen. Legen Sie Ihre Hand auf den oberen Bauch und atmen Sie tief ein, und zwar so, dass sich Ihr Bauch bewegt, dann atmen Sie langsam aus, zählen Sie dabei innerlich bis mindestens fünf. Bis zehn wäre noch besser. Wiederholen Sie diese Übung mindestens dreimal. Das kontrollierte Atmen beruhigt und macht Sie stärker. Es hilft bei Grant, Angst, Schlafproblemen. Ansonsten gilt: Tagesstruktur einhalten, aktiv bleiben.
Gerüchte, Gerüchte
Sie entdecken ständig Neues, das Sie beunruhigt? Sehr verständlich, aber diese Strategie macht Sie nur unruhiger. Dosieren Sie Ihre Suche nach Informationen, dreimal pro Tag eine halbe Stunde genügt, und zwar nur auf den Internetseiten, die gut geprüfte Informationen bereithalten.
Ganz allein?
Alleinlebende könnten sich vor Einsamkeit fürchten. Ziemlich verständlich, aber Freunde und Familie sind ja nicht weg, die gemeinsam erlebte Zeit muss nur anders gestaltet werden. Man kann sich auf Skype treffen, auch gemeinsam Sport machen oder im virtuellen Raum kochen. So können Sie Ihre Freundschaften sogar festigen. Bleiben Sie aktiv, rufen Sie an. Kann das die körperliche Nähe ersetzen? Nein, aber es hilft sehr, wenn man regelmäßig plaudern kann.
Wie halte ich durch?
Schauen Sie auf den einzelnen Tag, nicht auf die gesamte Dauer. Jeder Tag, denn Sie durchgehalten haben, ist ein Tag weniger in dieser Situation. Jeden Tag, den Sie gemeistert haben, erhöht Ihr Selbstvertrauen, auch den nächsten Tag gut zu überstehen. Wenn wir es hinter uns gebracht haben, werden wir ein Stück stärker sein, kompetenter sein im Bewältigen von Krisen.
Brigitte Lueger-Schuster ist Professorin am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien und Leiterin der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Missbrauch in Institutionen, Psychosoziale Folgen von traumatischem Stress, Bewältigungsstrategien, Resilienz, Komplexes Trauma, Komplexe PTSD, Beurteilung von traumabedingten Störungen sowie Menschenrechtsverletzungen. (© Petra Schiefer)