"Wir haben den Planeten verändert"

Über die genaue Definition des Begriffs Anthropozän wird noch diskutiert, dass es ein Erdzeitalter des Menschen gibt, ist aber wissenschaftlich belegbar. Der Geologe Michael Wagreich befasst sich seit Jahren mit dem Thema und erklärt zum Auftakt der Semesterfrage 2021 die Bedeutung des Begriffs Anthropozän und die Spuren des Menschen auf dem Planeten.

Der im Jänner 2021 verstorbene Nobelpreisträger Paul J. Crutzen war nicht nur einer der Entdecker des Ozonlochs, sondern auch der Erste, der den Begriff "Anthropozän" zur Diskussion stellte. Crutzen war bereits im Jahr 2000 überzeugt, dass das Holozän (die bislang jüngste Epoche der Erdgeschichte) beendet sei und forderte, das Anthropozän – das Erdzeitalter des Menschen – auszurufen.

Begriff mit Symbolkraft

"Der Begriff Anthropozän fasst alle Veränderungen am Planeten zusammen, die der Mensch verursacht hat, und hat daher eine große Symbolkraft", sagt Michael Wagreich vom Institut für Geologie der Uni Wien. Die verschiedenen Problemfeldern der neuen Epoche – Klimaerwärmung, Meeresspiegelanstieg, Umweltverschmutzung etc. – könne und dürfe man nicht mehr ignorieren. Wagreich ist seit 2012 Mitglied einer Arbeitsgruppe der Internationalen Stratigraphischen Kommission, die die Einführung des Anthropozäns als offizielles Erdzeitalter prüft.

Spuren von Atomtests belegen den Startpunkt

Als Sedimentologe erforscht Michael Wagreich die geologischen Spuren des Anthropozäns. Derzeit konzentriert sich die Arbeitsgruppe darauf, den Startpunkt des Erdzeitalters festzulegen. Wagreich: "Wenn wir das Anthropozän als Zeitraum definieren, in dem der Mensch geologische Prozesse dominiert, dann braucht es einen physischen Punkt, der den Beginn zeigt." Die Belege sind zum Beispiel Plutonium-Isotope, die auf die Atombombentests der 1950er und 1960er zurückgehen, und die in Ablagerungen von der Antarktis bis zur Tiefsee zu finden sind.

Daher legen die Forscher*innen den Startpunkt des Anthropozäns derzeit um 1950 fest. "Nach dem zweiten Weltkrieg hat sich der Energieumsatz drastisch erhöht. Durch fossile Brennstoffe und das extreme Wachstum der Industrie kam es zu einer 'Great Acceleration', einer großen Beschleunigung, die für die Erdgeschichte an die Dimensionen eines Meteoriteneinschlags heranreicht", so Wagreich.

"Wir verändern den Planeten unumkehrbar für mindestens Zehntausende von Jahren und treiben auf einen Zustand der Erde zu, wie es ihn seit Millionen von Jahren nicht gegeben hat", antwortet Geologe Michael Wagreich auf die aktuelle Semesterfrage der Uni Wien. Diskutieren Sie zum Thema mit auf derStandard.at! (@erdgeschoss)

70 Jahre Raubbau an der Erde

Dass der Mensch den Planeten innerhalb von 70 Jahren irreversibel verändert hat, ist für den Geologen einerseits erschreckend, andererseits aber auch das stärkste Argument für eine rasche Trendwende.

Wagreich: "Der Mensch hat zwei Drittel der Landfläche umgestaltet, 50 Prozent der Süßwasserreserven verbraucht und so viele Treibhausgase produziert, wie es sie seit Millionen von Jahren nicht mehr gegeben hat. Ich glaube nicht, dass es übertrieben ist zu sagen: Wir sind dabei, den Planeten zu verändern und wir haben ihn auch schon unumkehrbar verändert." Nur, wenn diese Fakten auch in der Gesellschaft ankommen, können möglichst breit gestreute Maßnahmen gegen den Klimawandel eingeleitet werden, ist er überzeugt.

Michael Wagreich ist Mitglied des Vienna Anthropocene Networks, das 2019 gegründet wurde. Eine Gruppe von Wissenschafter*innen der Uni Wien unter der Leitung von Germanistin Eva Horn hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Anthropozän aus interdisziplinärer Sicht zu erforschen.


Für Michael Wagreich ist auch die aktuelle COVID-19-Pandemie ein Ausdruck des Anthropozäns: "Der Ausbruch geht auf die steigende Nahrungsmittelproduktion und die schlechten Lebensumstände von Tieren und Menschen in China zurück. Die Verbreitung wäre ohne die Globalisierung und den Flugverkehr niemals so schnell passiert. Das Anthropozän ist allgegenwärtig." (bw)

In seiner Forschung konzentriert sich Michael Wagreich unter anderem auf menschengemachte Sedimente in Wien. IM WWTF-Projekt "The Anthropocene Surge - evolution, expansion and depth of Vienna’s urban environment" erforscht er anthropozäne Ablagerungen seit der Römerzeit – zuletzt etwa am Karlsplatz bei den Bauarbeiten des Wien Museum.