Was ist dran an der #toiletpapercrisis?

Bild eines Supermarktes

Wie die ausgeklügelte Supply Chain in Zeiten von COVID-19 funktioniert, erklärt Logistikexperte Karl F. Dörner von der Universität Wien. Nicht der Mangel an Gütern, sondern der Ausfall von Fahrer*innen könnte schließlich zum Problem führen.

uni:view: In Wien leben viele Menschen auf engem Raum zusammen. Die Lebensmittelversorgung scheint da eine logistische Meisterleistung zu sein. Wie funktionieren Supply Chains?
Karl F. Dörner: In über ganz Österreich verteilten Zentrallagern werden die Produkte unseres täglichen Bedarfs verwahrt. Mit großen Fahrzeugen gelangen sie in Regionallager, die sich meistens vor den Städten, etwa in Wiener Neustadt, Schwechat oder Stockerau befinden, und werden von dort aus direkt in die Filialen geliefert. Vorab werden die Güter aber kommissioniert, sprich: Die Produktpalette wird für jede Filiale maßgeschneidert zusammengestellt, damit möglichst wenig Lieferungen notwendig sind. In den regionalen Lagern werden auch die Routen für die – nun öfter in Anspruch genommene – Hauszustellung geplant. 

uni:view: Welche Gefahr stellt COVID-19 für die fein aufeinander abgestimmte Logistikkette dar?
Dörner: Unsere Güter werden zum Großteil von LKWs transportiert. In der Zukunft können diese womöglich schon fahrerlos Produkte von A nach B bringen, aber derzeit benötigen wir noch Lenker*innen. Vor allem die Schließung der Grenzen kann da problematisch werden: Fahrer*innen, die das Land verlassen, können oftmals nur schwer zurückkehren, müssen sich in Quarantäne begeben oder haben mit Wartezeiten an der Grenze zu rechnen. Sollte der Durchseuchungsgrad steigen, könnten auch die Fahrer*innen knapp werden. 11.000 Unternehmen des österreichischen Logistik-Wertschöpfungskerns beschäftigen unmittelbar 160.000 Personen (vgl. Zentralverband Spedition und Logistik) – wenn viele davon erkranken bzw. sich in Isolation begeben müssen, haben wir mit Engpässen zu rechnen. Dann müssen andere Organisationen aushelfen, das passiert derzeit zum Teil schon durch das Bundesheer.  

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uni:view: Wann sprechen wir denn von Notversorgung und wie kann diese auch in Krisensituationen sichergestellt werden?
Dörner: Erstmal vorweg – momentan sieht es nicht so aus, als ob es in naher Zukunft zur Notversorgung kommen wird. Die Hilfsorganisationen sind aber für diesen Fall ausgerüstet und könnten schnell Soforthilfe leisten. Dabei geht es neben der medizinischen Versorgung auch um die Verteilung von Lebensmitteln und Hilfsgütern mittels standardisierter Hilfspakete. Aus derzeitiger Sicht ist es sicher ratsam, die Lebensmittel für zumindest eine Woche sowie zwei Liter Trinkwasser pro Person für mehrere Tage im Haus zu haben –  in erster Linie damit man die Kontakthäufigkeit reduziert. Auch wenn man regelmäßig lebensnotwendige Medikamente wie z. B. Insulin injiziert, empfiehlt es sich, einen kleinen Vorrat anzulegen. 

uni:view: "Hamstereinkäufe" reichen meistens für mehr als eine Woche. Welchen Einfluss hat atypisches Einkaufsverhalten auf die Logistikkette?
Dörner: Die Bedarfsplanung von Gütern beruht häufig auf historischen Daten. Ein Beispiel: Den täglichen Bedarf an Babywindeln kennen wir und auch die Anzahl der Babys bleibt etwa gleich, die Nachfrage nach Windeln können wir somit gut einschätzen und wir brauchen keine reaktionsfähige Supply Chain. Reaktionsfähige Supply Chains haben deutlich höhere Kosten und sind für Güter, die eine stabile Nachfrage haben, im Normalbetrieb einfach nicht notwendig. Bei den Hamstereinkäufen werden vorrangig Produkte gehortet, die üblicherweise eine recht gute Vorhersage haben – etwa Reis, Nudeln oder Mehl. Wenn es bei diesen Produkten zu einer größeren unerwarteten Nachfrage kommt, dauert es länger bis diese Nachfragespitzen durch Nachlieferungen befriedigt werden können. Diese Engpässe entstehen nicht, weil es grundsätzlich an der Verfügbarkeit der Güter mangelt, sondern weil die Versorgungskette auf diese Schwankungen einfach nicht ausgerichtet ist. 

uni:view: Das betrifft dann wohl auch Toilettenpapier – derzeit ja ein rares Gut!
Dörner: Die Frage ist, warum Toilettenpapier so oft beim Hamsterkauf im Einkaufswagen landet, schließlich ist es nicht lebensnotwendig. Dennoch gibt es auf Twitter unerklärliche Warnmeldungen, es kursieren Hashtags wie #toiletpapergate oder #toiletpapercrisis und die Toilettenpapier-Regale werden regelrecht gestürmt – diese erhöhte Nachfrage wundert mich schon sehr. In der Folge ist natürlich klar, dass es zu einem kurzfristigen Mangel kommt und es schon Mal länger dauern kann, bis die Regale wieder befüllt werden, als man es vielleicht vor COVID-19 gewohnt war.  

uni:view: Die Supply Chain funktioniert – wo sehen Sie dennoch Verbesserungsbedarf?
Dörner: Gerade in Großstädten werden die vielen Lieferfahrzeuge zunehmend problematisch. Um die Fahrzeuge in der Stadt zu reduzieren, wird also versucht, Anlieferungen von unterschiedlichen Waren zu konsolidieren. Es wird auch über Alternativen zum klassischen LKW nachgedacht: Neuartige City Logistik Konzepte sehen z.B. vor, U-Bahnen für Paketzustellungen in der Nacht zu verwenden. Darüber hinaus wird immer mehr auf CO2-reduzierte Auslieferung gesetzt, zum Beispiel durch die Integration von Elektrofahrzeugen oder Lastenfahrrädern in die Logistikkette.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (hm)

Karl F. Dörner ist Experte für Produktion und Logistik am Institut für Business Decisions and Analytics der Universität Wien. Mit seiner Forschung möchte er es möglich machen, alternative Auslieferungskonzepte in der städtischen Belieferung zu entwickeln. (© Barbara Mair)