Warum "Fressen und gefressen werden" die Evolution vorantreibt

Im Gastbeitrag erzählt der Verhaltensbiologe Kurt Kotrschal von der Universität Wien, welche Themen rund ums "Fressen und gefressen werden" die BesucherInnen beim heurigen Biologicum Almtal erwarten – und warum. uni:view verlost außerdem sein neues Buch über die Beziehung zwischen Hund und Mensch.

Beim "Biologicum Almtal" geht es heuer um das "zweitwichtigste" Thema im Leben. Denn die "orale Beziehung" zur Welt ist kein Privileg unreifer Zeitgenossen, sie prägte profund die Evolution aller Tiere, einschließlich Mensch.

Als "heterotrophe" Organismen, die sich nicht wie die grünen Pflanzen durch Photosynthese ernähren können, lebten wir und unsere Vorfahren schon immer von anderen Organismen. Und mussten darauf achten, nicht selbst zur Nahrung zu werden.

Das Biologicum Almtal findet von 6. bis 9. Oktober 2016 unter dem Motto "Fressen und gefressen werden" in Grünau im Almtal statt. MitarbeiterInnen der Universität Wien können an der Veranstaltung zu einem vergünstigten Tarif teilnehmen (Tagungsgebühr von 300 Euro statt 360 Euro): Einfach im untersten Feld der Anmeldung unter Zusatzinformation "Universität Wien-MitarbeiterIn" angeben.

Fressen und gefressen werden hat uns geformt

Dieser Umstand ließ unseren Vorfahren Kiefer, Zähne, Flossen, Schuppen wachsen, schließlich Beine, Flügel sowie ein immer größeres Gehirn – und zwang sie zu Gruppen zusammen. Das schützt vor Raubfeinden und das Risiko, selber erwischt zu werden, teilt sich durch die Zahl der Individuen in der Gruppe.

Dies erforderte auch geeignete Sinnesorgane und Nervensysteme. So entstanden etwa die bekannten Spiegelneurone und damit die biologischen Grundlagen für ein kompliziertes Sozialleben. Aber erst die Vögel und Säugetiere starteten sozial so richtig durch. Nicht zuletzt, weil sie im Gegensatz zu den Amphibien und Reptilien ihre Gehirne ständig auf Betriebstemperatur halten können.

Zu den evolutionären Zusammenhängen des "Fressens und gefressen Werdens" referieren beim Biologicum Almtal in Grünau Walter Arnold, Verhaltensbiologe an der Veterinärmedizinischen Universität Wien und Kurt Kotrschal vom Department für Verhaltensbiologie der Universität Wien.

Gemeinsames Jagen führte zu Toleranz …

Ein anspruchsvoll-kooperatives Sozialleben zeichnet Arten aus, die gemeinsam jagen – etwa Wölfe, Schimpansen oder Menschen. Dies fördert unter anderem ein hohes Ausmaß an wechselseitiger Toleranz. Schließlich wird man nur dann wieder zusammen jagen, wenn hinterher die Beute verlässlich geteilt wird.

So erlangte das Teilen mit anderen und das gemeinsame Mahl eine zentrale Bedeutung für den Zusammenhalt. Und rund um das Jagen und gemeinsame Essen entwickelten sich Rituale – erfolgreiche Jäger wurden zu angesehenen Mitgliedern ihrer Gruppen, nicht nur beim Menschen.

… und dem gemeinsamen Mahl

Vom gemeinsamen Jagen bei Wölfen, Zahnwalen oder Schimpansen ist es nur noch ein kleiner Schritt zur überragenden sozialen Bedeutung des gemeinsamen Essens beim Symbol- und Kulturtier Mensch. Die Clans der Jäger und Sammler entwickelten spirituelle Jagd- Nahrungs- und Opferrituale. In allen Religionen und Kulturen erlangte das gemeinsame Mahl große Bedeutung – symbolisch besonders aufgeladen wurde es etwa im Christentum.

Heute wirken in allen gemeinsamen Unternehmungen der Menschen jene Verhaltensmuster und mentalen Einstellungen, die sich im Zusammenhang mit der Kooperation und Konkurrenz um Nahrung, und um das gemeinsame Jagen entwickelten: Verlässlichkeit, wechselseitige Toleranz und Respekt, Fairness und Freude an der geglückten Zusammenarbeit.

Das "nett sein" wurde im Zuge der Evolution zum starken Selektionsfaktor. Heute diskutiert man daher wieder über die "Selbstdomestikation" des Menschen. So wird der Mathematiker Karl Sigmund von der Universität Wien beim heurigen Biologicum über "Das vollkommenste aller Haustiere" sprechen.

Gemeinsames Essen, Symbole und Rituale

Schon immer waren für Menschen die Gruppenzugehörigkeit und die symbolischen Unterschiede zu "den Anderen" von großer Bedeutung. So muss das Essen im Judentum koscher und im Islam halal sein, während sehr viele Hindus gar keine Tiere essen. Dem Christentum mangelt es hingegen auffällig an rituellen Nahrungsvorschriften. In dieses brachliegende Terrain dringen heute viele Subkulturen um die Nahrungsaufnahme vor: Nahrung muss "gesund" sein. Dazu konvergieren die Sekten der "richtigen" Ernährung und die Ernährungswissenschaften in der Faustregel, zu viel an Zucker, Salz, Weißmehl, rotem Fleisch und Alkohol zu vermeiden.

Einfluss von Social Media und Nahrungsindustrie

Heute katalysieren die sozialen Medien eine nie da gewesene Fraktionierung der Gesellschaft und einen Autoritätsverlust von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und klassischer Medien. In der "Schönen Neuen Welt" zählen gesichertes Wissen und der gute alten Hausverstand wenig und Ernährungsregeln scheinen für den Verlust religiöser und politischer Gewissheiten herhalten zu müssen.

Den Mainstream in der Ernährung verdanken wir dem zwar reichhaltigen, aber nivellierenden Angebot der Nahrungsindustrie. So lassen sich die meisten jüngeren Leute heute unter dem Schlagwort der "convenience" trophisch entmündigen.

Die Ernährungswissenschafterin Hannelore Daniel von der TU München wird beim Biologicum über "Ernährung und Gesundheit zwischen Technologie und Transzendenz" sprechen und der "Genussphilosoph" Robert Pfaller von der Kunstuniversität Linz über "Die Moral des Nichtfressens und ihre politische Umwelt". Mit welchem Recht halten und töten wir andere Tiere, nur um sie zu essen? Dazu werden sich Herwig Grimm, Professor für Ethik an der veterinärmedizinischen Uni Wien ("WIR essen SIE. Zur Kritik der Naturalisierung der Tierethik") und auch der Kabarettist Ludwig W. Müller Gedanken machen

Essen wir die Umwelt und uns selber zu Tode?

Bis heute verhungern viele Menschen, während sich Milliarden von Menschen mittels Messer und Gabel selbst zu Tode zu bringen suchen und die Kochkunst und der Kult um den Genuss teils seltsame Blüten treiben. Von der verschwenderischen Übererfüllung trophischer Bedürfnisse lebt eine große Industrie. Zum Preis des Raubbaus an den letzten natürlichen Lebensräumen und katastrophaler ökologischer Fußabdrücke. So wird für die Wohlhabenden pflanzliche Nahrung – unter hohen Energieverlusten und gar nicht nachhaltig – an intensiv gehaltene Tiere verfüttert, oder sogar in Bio-Treibstoff umgesetzt.

In seinem neuesten Buch "Hund & Mensch. Das Geheimnis unserer Seelenverwandtschaft" schreibt Kurt Kotrschal von der Universität Wien über das Geheimnis der Seelenverwandtschaft zwischen Hund und Mensch.