Wahlumfragen: "Unehrlichkeit können wir nie ausschließen"

Wissen, was das Volk denkt – und das zu jedem erdenklichen Thema. Vor allem im Wahlkampf jagt eine Umfrage die nächste. Gleichzeitig wird die Kritik daran immer lauter. uni:view hat die Wahlforscherin Sylvia Kritzinger u.a. gefragt, welche Umfragen glaubwürdig sind und wie sie Wahlen beeinflussen.

uni:view: Die Nationalratswahl rückt näher und wieder wird darüber diskutiert, ob bzw. wie diese von Umfragen beeinflusst wird. Was ist Ihre Meinung als Wahlforscherin dazu?
Sylvia Kritzinger: Aus meiner Sicht gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Fakt ist, dass die Wahlbeteiligung bzw. die Mobilisierung durch Wahlumfragen erhöht oder reduziert werden kann. Vor allem wenn es knapp hergeht, lassen sich die Leute von Umfrageergebnissen eher zur Urne treiben. Aber wir wissen nicht mit Sicherheit, ob das Wahlergebnis dadurch in eine bestimmte Richtung beeinflusst wird. Auch kommt es auf die Bedeutung der Wahl an bzw. wie stark sie im Vorfeld polarisiert. Beispielsweise haben Umfragen bei einer Landtagswahl weniger Einfluss als bei einer Nationalratswahl.

uni:view: Was halten Sie von der Idee, die Veröffentlichung von Umfragen vor Wahlen zu untersagen?
Kritzinger: In einer vernetzten Welt ist diese Diskussion relativ hinfällig – das hat sich bei Wahlen gezeigt, bei denen so ein Verbot ausgesprochen wurde. Die Ergebnisse werden auf einer Website im Ausland veröffentlicht, auf die schlussendlich jeder zugreifen kann. Wichtiger wären aufgeklärte BürgerInnen, die mit Umfragen umgehen können und wissen, was diese aussagen bzw. wie sie zu interpretieren sind. Aber es ist auch Aufgabe der Medien, Umfragen so aufzubereiten, dass sie jeder versteht und aufzuzeigen, was ein Ergebnis aus einer Stichprobe mit 300 Personen wirklich aussagt und was nicht.

uni:view: Wie aussagekräftig sind denn Umfragen, die bereits zwei Monate vor der Wahl veröffentlich werden?
Kritzinger: Sie zeigen nur eine Tendenz bzw. sind Momentaufnahmen. Der Wahlkampf hat gerade erst begonnen und die WählerInnen werden über die verschiedenen Kommunikationskanäle erst im Laufe der nächsten Wochen mit Informationen beliefert. Da es viele unentschlossene WählerInnen gibt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie aufgrund dieser Einflüsse ihre Einstellungen ändern bzw. überhaupt zu einer Entscheidung finden. Ich vergleiche Wahlprognosen oft mit Wirtschaftsprognosen: Diese werden auch im Nachhinein oft revidiert bzw. nach oben oder unten korrigiert. Mit Umfragen ist es ähnlich – nur dass diese viel stärker der Kritik ausgesetzt sind.

uni:view: Sie leiten gemeinsam mit zwei Kollegen das Projekt "Austrian National Election Study" (AUTNES). Wie unterscheidet sich akademische Wahlforschung von Wahlumfragen, wie sie z.B. von Medien in Auftrag gegeben werden?
Kritzinger: Es gibt sehr große Unterschiede. Während die akademische Wahlforschung ihre Umfragen über Monate – wenn nicht Jahre – hinweg plant, stehen Medien unter Zeitdruck, da sie möglichst schnell ein Ergebnis als Schlagzeile brauchen. Diese Umfragen laufen nach einer ganz anderen Logik ab. Auf Grund der Zeitnot ist es oft gar nicht möglich, viele Personen zu interviewen und eine breite Palette an Themen abzufragen. Wir dagegen sind nicht zeit-, sondern qualitätsgetrieben; in unsere Umfragen fließen auch viel mehr Themen ein.

Die Daten zur Nationalratswahl 2017, die Kritzinger und ihr Team im Rahmen von AUTNES erheben, stehen nach der Wahl zur freien Verfügung: "Jeder und jede kann die Umfrageergebnisse anschauen, analysieren und nutzen. Es ist der Auftrag der Wissenschaft an die Gesellschaft, gute qualitätsvolle Daten mit viel Inhalt zu produzieren und jedem zur Verfügung zu stellen. Unsere Daten zu den Nationalratswahlen 2008 und 2013 wurden weltweit stark genutzt."

uni:view: Wie kann es sein, dass die Umfrageergebnisse oftmals so weit von den tatsächlichen Wahlergebnissen abweichen?
Kritzinger:
Einige Medien geben z.B. keine Schwankungsbreiten an, da die Ergebnisse mit Schwankungsbreiten so nahe beieinander liegen oder sich sogar überlappen würden, dass keine Schlagzeile mehr produziert werden kann. Das ist natürlich auch für uns unangenehm, da die Umfrageforschung als solche ins negative Licht gerückt wird. Würde man sich bei jeder Umfrage die Schwankungsbreiten ansehen, lägen die Umfragen oftmals gar nicht so weit daneben. Auch sind die Schwankungsbreiten bei den von Medien in Auftrag gegebenen Umfragen aufgrund der kleinen Stichproben oft besonders groß.

uni:view: Wie können KonsumentInnen auf den ersten Blick erkennen, ob eine Umfrage glaubwürdig ist bzw. den Qualitätskriterien entspricht?
Kritzinger: Folgende zwei Punkte sollte man sich anschauen: Erstens die Anzahl der interviewten Personen – wobei es allerdings keine Faustregel gibt. Die optimale Größe einer Stichprobe hängt von der kleinsten Gruppe in der Gesamtpopulation ab, über die ich noch etwas herausfinden möchte. Wurden nur 300 bis 400 Personen interviewt, und möchte man dann noch Unterscheidungen nach Geschlecht, Bildung, Region, etc. und Wahlentscheidung treffen, dann werden die Aussagen immer unkonkreter. Von Qualität zeugen zweitens auch die angegebenen Schwankungsbreiten. Die KonsumentInnen sehen so auf den ersten Blick, dass das "Ergebnis" eigentlich flexibel ist und wären dann nach der Wahl weniger überrascht, wenn es ganz anderes aussieht. Es ist also wichtig, dass die Ergebnisse methodisch korrekt präsentiert werden.

uni:view: Ist es in Hinblick auf die schwere Erreichbarkeit von bestimmten Personen – viele besitzen etwa kein Festnetztelefon mehr – überhaupt möglich, repräsentativ zu arbeiten?
Kritzinger: Es gibt verschiedene Möglichkeiten repräsentativ zu sein: Mit einer Zufallsstichprobe, d.h. man wählt die Personen komplett zufällig aus, oder mit einer Quotenstichprobe. Bei letzterer werden z.B. die Mikrozensus-Daten der Statistik Austria zur Verteilung der österreichischen Bevölkerung herangezogen und RespondentInnen nach diesen Personenkennzeichen ausgewählt. Beispielsweise muss eine Respondentin als Kennzeichen Frau, wohnhaft in Burgenland, zwischen 30 und 40, höchsten Bildungsabschluss Matura aufweisen, um in die Stichprobe zu gelangen. Das ist dann zwar repräsentativ, aber nicht zufällig. Das stellt einen enormer Unterschied dar, da bei der Quotenstichprobe nicht jede Person die gleiche Wahrscheinlichkeit hat, in die Stichprobe aufgenommen zu werden, sondern aufgrund von vordefinierten Kriterien ausgewählt wird. Der "Gold Standard" ist eine repräsentative zufallsbasierte Stichprobenauswahl: Hier hat jede Person die gleiche Wahrscheinlichkeit, in die Stichprobe zu gelangen.


uni:view: Bei welcher Befragungsmethode tendieren die Befragten zu Unehrlichkeit und wie gehen Sie mit "sozialer Erwünschtheit" um?
Kritzinger: Unehrlichkeit können wir bei keiner Methode ausschließen. Jedoch wissen wir, dass mit persönlichen Interviews eine größere soziale Erwünschtheit einhergeht – mit der richtigen Formulierung können wir diese aber reduzieren. Etwa indem wir über verschiedene Antwortoptionen Ausweichmöglichkeiten anbieten und dennoch die Möglichkeit geben, richtig zu antworten. Das haben wir z.B. bei einer Umfrage zur Wahlbeteiligung gemacht. Der Urnengang wird von vielen als BürgerInnenpflicht angesehen, weshalb Personen ungern zugeben, dass sie nicht wählen waren – entsprechend viele Falschangaben erhalten wir. Um diesem Pflichtbewusstsein gerecht zu werden, haben wir unterschiedliche Antwortmöglichkeiten angeboten und so die "soziale Erwünschtheit" reduziert. Die Befragten konnten zugeben, nicht gewählt zu haben, da sie gleichzeitig sagen konnten: "Grundsätzlich wähle ich immer."

In einem ÖNB-Projekt, das im Rahmen von AUTNES läuft, untersucht Sylvia Kritzinger mit weiteren WissenschafterInnen des Instituts für Staatswissenschaft derzeit den Populismus in Österreich bzw. die Rolle populistischer Einstellungen bei der Wahlentscheidung: "Anhand unserer Umfrageergebnisse zur Nationalratswahl analysieren wir, wie bzw. wen Leute mit welchen populistischen Einstellungen wählen und errechnen, welchen Einfluss Medien, Parteien oder persönliche Kontakte auf die Wahlentscheidung haben."

uni:view: Was sind die Umfragemethoden der Zukunft?
Kritzinger: Onlineumfragen. YouGov, ein internationales internetbasiertes Marktforschungsinstitut aus Großbritannien bzw. den USA, ist da sicherlich ein Vorreiter. Aber auch in Österreich gibt es bereits viele Online-Anbieter, mit denen wir zusammenarbeiten. Diese Methoden haben den Vorteil, dass man relativ schnell viele Personen zu einem Thema erreichen kann und entsprechend schnell zu Ergebnissen kommt. Es gibt aber noch viel Verbesserungspotenzial. Im Moment ist es z.B. noch nicht möglich, zufallsbasiert zu arbeiten, da sich die befragten Personen anmelden und aktiv teilnehmen müssen. Somit werden hauptsächlich jene befragt, die an Umfragen interessiert sind. Personen, die Umfragen ablehnen oder die keinen Internetzugang haben, erreicht man hingegen nicht.

uni:view: Warum ist akademische Wahlforschung wichtig?
Kritzinger: Bestimmte Fragen können nur anhand langfristiger Studien beantwortet werden: etwa wie sich die Wahlen mit der Zeit verändern, welche Zäsuren z.B. die 1990er Jahren prägten oder wie sich das Verhalten und die Einstellungen der WählerInnen und Parteien seitdem entwickelt haben. Außerdem fokussieren wir auch auf eine breite Palette von Themen, die in der kurzfristigen, auf Wahlen und Medien zentrierten Forschung, irrelevant sind, aber enorm wichtige Erklärungsansätze für das Wahlverhalten von BürgerInnen liefern. Allgemein gesprochen: Wir untersuchen das extrem komplexe Gerüst an Verhaltensstrukturen, Einstellungsstrukturen, Meinungen, Sozialisierungsprozessen und Kommunikationsaspekten, um schlussendlich die Fragen zu beantworten, auf die alle eine Antwort wollen: Warum geht jemand zur Wahl und warum entscheiden sich die WählerInnen für eine bestimmte Partei?

uni:view: Was sind die zukünftigen Herausforderungen in der Wahlforschung?
Kritzinger: Auf jeden Fall der Zugang zu den RespondentInnen. Da es immer mehr Umfragen gibt, wird es immer schwieriger, Personen zur Teilnahme zu animieren. Wir müssen kreative Zugänge finden, um auch weiterhin hochwertige Umfrageforschung zu betreiben. Eine Herausforderung ist auch, die Fragen so zu stellen, dass sie bei den Befragten richtig ankommen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Finanzierung. Wie wir wissen, kommen Wahlen teilweise sehr überraschend (schmunzelt), weshalb wir immer schon frühzeitig planen müssen, um die nötige Infrastruktur für die jeweils nächste Wahl aufzustellen. Um weiterhin wichtige Erkenntnisse für einen wesentlichen Bestandteil liberaler Demokratien – den demokratischen Wahlen – gewinnen zu können, ist es wichtig, die akademische Wahlforschung auf sichere finanzielle Beine zu stellen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch
! (ps)

Univ.-Prof. Mag. Dr. Sylvia Kritzinger ist Professorin für Methoden der Sozialwissenschaften am Institut für Staatswissenschaft an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsgebieten zählen Wahlforschung, Politisches Verhalten, Europäisierung der Parteipolitik, demokratische Repräsentation und quantitative Methoden. (Foto: privat)