Verbriefte Rechte, gefährdete Freiheiten

Menschenrechte und demokratische Freiheiten werden auch in Europa zunehmend in Frage gestellt. Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner und Osteuropahistorikerin Kerstin Susanne Jobst im Semesterfrage-Interview zum Grundrecht auf Asyl, zu LGBTIQ*-Rechten und Tabubrüchen.

uni:view: Frau Jobst, Frau Holzleithner, als Osteuropahistorikerin und als Rechtsphilosophin thematisieren Sie beide in ihren Lehrveranstaltungen und Forschungen immer wieder die aktuelle Tagespolitik. Welche menschenrechtlichen Fragen treiben Sie derzeit um?
Kerstin Susanne Jobst: In verschiedenen Ländern Osteuropas beobachten wir derzeit Tendenzen zu einer Beschneidung von Menschenrechten. Dazu gehört die Weigerung – insbesondere Ungarns, Polens, Tschechiens oder der Slowakei –, Geflüchtete aufzunehmen. Migration ist aber eine historische Konstante, Menschen sind immer migriert. Gemessen an früheren Wanderungen sind die derzeitigen Fluchtbewegungen nach Europa eher ein laues Lüftchen als eine "Welle".

Aber auch die Pressefreiheit oder LGBTIQ*-Rechte sind gefährdet, beispielsweise in der russischen Föderation. Formal ist Homosexualität dort seit 1993 nicht mehr strafbar. Aber sukzessive werden die Rechte von LGBTIQ*-Personen eingeschränkt, etwa durch das Verbot der "Propaganda von Homosexualität", welches schon das Händchenhalten gleichgeschlechtlicher Personen in der Öffentlichkeit unter Strafe stellt.

Elisabeth Holzleithner: Auch in Österreich war bis 1996 "Werbung" für "gleichgeschlechtliche Unzucht" strafbar – der entsprechende Paragraph 220 im Strafgesetzbuch konnte damals nur mit knappster Mehrheit abgeschafft werden. Und bis 2002 gab es eine Sonderstrafrechtsnorm, die bei hoher Strafdrohung ein höheres Mindestalter (nämlich 18 Jahre statt 14) ausschließlich für sexuelle Beziehungen unter Männern vorsah. Sie wurde dann vom Verfassungsgerichtshof als diskriminierend aufgehoben. Überhaupt sind viele Gleichstellungsimpulse in den letzten Jahren von Höchstgerichten, aber auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgegangen – an sie kann man sich wenden, wenn man der Meinung ist, dass Gesetze im Widerspruch zu Grundrechten stehen.

So wurde das Gesetz, das eingetragene Partnerschaften für gleichgeschlechtliche regelt, immer wieder vor den Verfassungsgerichthof gebracht, weil viele seiner Bestimmungen willkürliche Ungleichbehandlungen vorgesehen haben. Im Dezember 2017 hat der Verfassungsgerichtshof gewissermaßen den Schlusspunkt gesetzt, indem er verfügte, dass der Ausschluss gleichgeschlechtlicher Paare von der Ehe mit dem Gleichheitsgebot unserer Verfassung nicht zu vereinbaren ist.

Jedes Semester stellt die Uni Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2018/19 lautet "Was eint Europa?". ForscherInnen liefern dazu vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus dem jeweiligen Fachbereich. Zum Thema Menschenrechte in Europa hat uni:view mit Rechtsphilosphin Elisabeth Holzleithner (li.) sowie Osteuropahistorikerin Kerstin Susanne Jobst (re.) gesprochen. (Fotos: © Uni Wien/Barbara Mair)

Auch der Europäische Gerichtshof hat etliche bedeutende Entscheidungen getroffen, in denen zum Beispiel die Rechte von geflüchteten LGBTIQ*-Personen gestärkt wurden. Die Verfolgung aufgrund der Geschlechtsidentität oder von Homosexualität ist mittlerweile als Asylgrund anerkannt, und es ist auch nicht mehr möglich, jemand in den Herkunftsstaat zurückzuschicken, so auf die Art: Wenn Sie sich nur diskret verhalten, dann wird Ihnen ohnehin nichts passieren.

Damit verlagert sich die Frage dahin, ob jemand glaubwürdig vorbringen kann, aufgrund der eigenen Homosexualität von Verfolgung bedroht zu sein. Für die Befragungen von AsylwerberInnen hat der Europäische Gerichtshof vorgegeben, dass sie nicht auf Stereotypen beruhen und nicht übergriffig sein dürfen.

Wie die Befragungen aber in der Praxis aussehen, ist eine andere Frage, und wir wissen ja aus den österreichischen Medien, dass da teilweise ganz haarsträubende Dinge passieren. Das steht wohl auch im Zusammenhang mit der zunehmend restriktiven Handhabung des Asylrechts. Überhaupt bewegen sich europäische Staaten derzeit immer mehr in Richtung Sicherheits- und Präventionsstaaten. Grundrechtlich verbürgte Freiheiten haben damit einen zunehmend schwierigeren Stand.

Wie steht es denn heutzutage um LGBTIQ*-Rechte in Europa?
Jobst: Auf europäischer Ebene können sich LGBTIQ*-Personen auf verbriefte Rechte berufen, das war ein ganz wichtiger Schritt. Aber es fehlt vielfach noch an Akzeptanz in der Bevölkerung. Besonders gravierend ist dies in osteuropäischen Ländern oder Russland, wo viele Menschen Repressionen etwa gegen gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen billigen. Dazu hat auch der Einfluss der wiedererstarkten russisch-orthodoxen Kirche beigetragen.

In Polen unterstützt die PiS-Partei das traditionelle Familienmodell mit immensen Finanzleistungen. Das sieht man auch am neuen Abtreibungsrecht, das Schwangerschaftsabbrüche weitgehend illegalisiert, während es zeitgleich in Irland nach einer Volksabstimmung liberalisiert wurde. Derartige Tendenzen sind in allen Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) zu beobachten, denen sich Österreich derzeit annähert. Orbán hat verlauten lassen, dass er auf den illiberalen Staat abzielt, der sämtliche gesellschaftlichen Gruppen betrifft und die Rechte vieler einschränkt.


Am 14. Jänner 2019 findet die Abschlussveranstaltung zur aktuellen Semesterfrage im Audimax statt. Nach einem Impulsreferat von Franz Vranitzky, österreichischer Bundeskanzler 1986-1997, zum Thema "Was eint Europa?" diskutieren mit ihm am Podium Sylvia Hartleif vom Europäischen Zentrum für politische Strategie, die österreichische Schriftstellerin Maja Haderlap, EU-Aktivistin und Studentin Nini Tsiklauri sowie seitens der Universität Wien Gerda Falkner vom Institut für Europäische Integrationsforschung und Martin Kocher vom Institut für Volkswirtschaftslehre und IHS-Leiter. Moderiert wird der Abend von "DerStandard"-Chefredakteur Martin Kotynek.

Holzleithner: Das Beispiel Ungarn zeigt auf, wie zu diesem Zweck Familien- und Migrationspolitik verbunden werden. Die Regierung Orbán versucht, Ungarn als christliches Bollwerk gegen die angebliche muslimische Gefahr zu etablieren, die sie imaginiert und inszeniert. Eine ihrer ersten Initiativen war die Neugestaltung der Verfassung, in die auch der Schutz der heterosexuellen Familie aufgenommen wurde.

uni:view: Reichen die momentanen Sanktionsmechanismen auf EU-Ebene aus, wenn Mitgliedsländer Menschenrechte einschränken?

Holzleithner: Sanktionen wie das Vertragsverletzungsverfahren sind starke Instrumente, aber ihre Durchführung ist in der Praxis oft schwierig und langwierig. Dabei kommt es immer auch darauf an, wie die EU gerade politisch aufgestellt ist. Als die erste schwarz-blaue Regierung in Österreich gebildet wurde, gab es in der EU große Empörung. Seinerzeit hat die EU ganz stark europäische Werte betont, die von allen Mitgliedsstaaten eingehalten werden müssen.

Dies auch vor dem Hintergrund, dass 1998 mit dem Vertrag von Amsterdam neue Antidiskriminierungsbestimmungen beschlossen wurden, und Anfang der 2000er Jahre folgten Antidiskriminierungsrichtlinien, etwa betreffend ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Religion und Weltanschauung. Das gemeinsame Aufstehen gegen Österreich war Teil dieser Entwicklung. Seit der Osterweiterung ist die EU aber riesig, und die Interessenlagen sind noch divergenter als dies früher ohnehin der Fall war.

Jobst: Gerade in einer Situation, in der die USA ein weniger verlässlicher Partner geworden sind und in der, wie in Brasilien, Despoten an die Macht kommen, brauchen wir mit Europa eine Instanz, die sich moralisch positioniert. Was mir in den letzten Monaten Sorge bereitet, ist diese Aneinanderreihung permanenter Tabubrüche von europäischen PolitikerInnen. Was zuvor zu Empörung geführt hätte, wird sagbar. Dann wird wieder zurückgerudert, aber die Sensibilität für Tabubrüche – auch auf Ebene der Menschenrechte – nimmt nach und nach ab. Das ist sehr gefährlich.


uni:view: Angesichts von Tabubrüchen und zunehmenden Konflikten zwischen den Mitgliedsstaaten: Was eint Europa?

Jobst:
Die Europäische Union hat ursprünglich wirtschaftliche Wurzeln. Aufgrund der gemeinsamen historischen Gewalterfahrung im Zweiten Weltkrieg war sie aber von Anfang an ein beispielloses Friedensprojekt: Es herrschte das Bewusstsein, dass so etwas nie wieder passieren darf. Die deutsch-französische Erbfeindschaft etwa ist heute Geschichte. Diesen Frieden zu erhalten ist ganz entscheidend. Und trotz all der derzeitigen Probleme kann Europa auch eine Stimme der Vernunft gegenüber jenen sein, die Nationalismus propagieren.

Holzleithner: Wir haben seit einigen Jahren in Europa die Grundrechtecharta. Diese starke, rechtsverbindliche Verankerung von Grundrechten kann etwas sein, das Europa eint. Mit diesem Regelwerk könnte man sich identifizieren, ja stolz darauf sein. Neben den Fokus auf die Wirtschaftsgemeinschaft ist in der EU im Lauf ihrer Geschichte zunehmend der Bereich des Sozialen getreten; hier waren vor allem die 1970er Jahre federführend. Eine wichtige Aufgabe der nächsten Jahre muss das Bemühen sein, soziale Sicherheit für all jene zu gewährleisten, die sich jetzt wirtschaftlich abgehängt sehen.

Denn Freiheit ist ohne soziale Sicherheit nicht denkbar. Dazu gehört aber auch eine klare positive Positionierung der EU zum Asylrecht als zentralem Grundrecht. Dieses immer wieder zu verteidigen ist unsere historische Verpflichtung aufgrund der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der Vernichtungspolitik des NS-Regimes. Das dürfen wir nie vergessen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (jr)

Elisabeth Holzleithner ist seit 2014 Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien. In ihren Forschungen konzentriert sie sich insbesondere auf Politische Philosophie mit Schwerpunkt auf Menschenrechte und Theorien der Gerechtigkeit, Legal Gender und Queer Studies, Recht und Literatur sowie Populärkultur.

Kerstin Susanne Jobst ist seit 2012 Professorin für Gesellschaften und Kulturen der Erinnerung im östlichen Europa am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Sie forscht u.a. zur Geschichte der Schwarzmeer- und Kaukasusregion, Osteuropas sowie der Habsburgermonarchie.