Türkei: "Klima der Angst hat Referendum beeinflusst"

Am Sonntag stimmten die TürkInnen über eine Verfassungsänderung ab: 51,41 Prozent mit "Ja". Welche Rechte der Präsident dadurch erhält und warum das politische System der Türkei eine radikale Änderung – weg von einer parlamentarischen Demokratie – erfährt, erklärt der Politologe Ilker Ataç.

Die VerfassungsexpertInnen des Europarates – als Venedig-Kommission bekannt – warnten vor ein paar Wochen in ihrem Bericht vor einem "Ein-Personen-Regime" in der Türkei: Die Verfassungsänderung entspreche durch den Abbau der nötigen Kontrollmöglichkeiten ("Checks and Balances") nicht dem Modell eines demokratischen Präsidialsystems, das auf Gewaltentrennung basiert. Sie wiesen auf die Gefahr hin, dass die Gleise für ein autoritäres Präsidialsystem gelegt würden.

Was der türkische Präsident nun alles kann: Der Präsident kann ohne Mitsprache oder Anhörung des Parlaments seine StellvertreterInnen und MinisterInnen ernennen und neue Ministerien schaffen. Diese können auch nicht per Misstrauensvotum abgesetzt werden. Er kann ohne Kontrollorgan Dekrete und Verordnungen mit Gesetzeskraft verabschieden. Er hat die Befugnis, das Parlament jederzeit ohne Grund aufzulösen und Gesetzesvorhaben mit seinem Veto zu blockieren. Außerdem kann der Präsident den größten Teil der Mitglieder im Rat der RichterInnen und StaatsanwältInnen ernennen und hat somit einen großen Einfluss auf die Justiz. Darüber hinaus entscheidet er über die Wahl der UniversitätsrektorInnen.

Gefahr eines "Ein-Personen-Regimes"

Das Präsidialsystem in der Türkei unterscheidet sich tatsächlich stark von ähnlichen Modellen in Ländern wie den USA und Frankreich. Auch in den USA ist der Präsident Staats- und Regierungschef. Im Vergleich fehlt aber in der Türkei die Kontrolle seiner Macht. Beispielsweise kann der Kongress in den USA ein Gegengewicht zum Präsidenten bilden und unabhängig vom Vetorecht des Präsidenten Gesetzesvorschläge verabschieden. Der Präsident ist auch nicht befugt, den Kongress aufzulösen.

Außerdem muss der Kongress in den USA dem Haushalt zustimmen, während in der Türkei der Präsident über das Budget alleine entscheidet. In den USA existiert traditionell gesehen eine starke unabhängige Gerichtsbarkeit. Im türkischen Präsidialsystem hat im Gegensatz dazu die exekutive Gewalt starke Einflusskraft auf die Justiz.

Seit dem Putschversuch herrscht Ausnahmezustand

Vor dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 lag laut Umfragen die Unterstützung für ein Präsidialsystem bei 35 Prozent. Seit dem Putschversuch herrscht in der Türkei der Ausnahmezustand, vor dessen Hintergrund auch das Referendum geschaffen wurde. Informations- und Meinungsfreiheit existieren dabei nur bedingt. Insbesondere arbeiten die oppositionellen Medien unter sehr schwierigen Bedingungen. Über hundert Nachrichtenagenturen, Fernsehstationen und Zeitungen wurden verboten. Es wurden mehr als hunderttausend BeamtInnen entlassen und mehr als hunderttausend Personen festgenommen.

Klima der Angst hat Referendum beeinflusst

Die Massenverhaftungen der letzten Monate haben ein Klima der Angst geschaffen, das das Referendum wesentlich beeinflusst hat. Insbesondere die zweitstärkste Oppositionspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) stand unter starkem politischen Druck. Deren Ko-Vorsitzende und mehrere BürgermeisterInnen befinden sich im Gefängnis. Zahlreiche AktivistInnen und PolitikerInnen der Partei wurden in den letzten Wochen festgenommen. Es ist bekannt, dass der Initiator des Referendums, die regierende AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), im Rahmen des Ausnahmezustands eine große Menge staatlicher Ressourcen für ein positives Ergebnis des Referendums mobilisiert hat.

Trotz "Ja" ist AKP-Basis geschwächt

Auch wenn das Referendum angenommen wurde, stellt das knappe Abstimmungsresultat aus der Perspektive der AKP und der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) kein positives Ergebnis dar. Die beiden Parteien, die gemeinsam im Parlament für die Verfassungsänderung gestimmt haben, hatten bei den Parlamentswahlen im November 2015 insgesamt 61,4 Prozent der Stimmen. Insofern bedeutet das Ergebnis des Referendums mit 51,4 Prozent für "Ja" einen Verlust von zehn Prozent der WählerInnenbasis.

Städte stimmten für "Nein"

Insbesondere sehen wir eine geographische Verschiebung der WählerInnen weg von einkommensstarken Städten hin zu ländlichen Gebieten mit schwacher ökonomischer Basis. Damit ist insofern eine Wende für die AKP zu beobachten, als dass der Aufstieg der Partei in den 1990er Jahren von einer populären Unterstützung in Städten wie Istanbul und Ankara getragen war. In fünf der sechs bevölkerungsreichsten Städte mit insgesamt über 31 Millionen EinwohnerInnen (Istanbul, Ankara, Izmir, Antalya und Adana) stimmten über 50 Prozent mit "Nein". Diese Städte gelten auch als die Industrie- und Handelszentren der Türkei; sie tragen gemeinsam zu 45 Prozent des türkischen Nationaleinkommens bei.

Legitimität der Wahl ist umstritten

Außerdem bleibt die Legitimität der Wahl umstritten. Die Hohe Wahlkommission entschied noch während der Auszählung auch jene Wahlpapiere als gültig zu erklären, die nicht offiziell gestempelt waren. Diese Entscheidung ist gesetzeswidrig und wird von den Oppositionsparteien als Skandal kommentiert. Die Opposition spricht außerdem von Betrugsfällen. Ob dieser Sachverhalt geklärt werden kann, bleibt unklar.

Die geschwächte Zustimmung der Bevölkerung scheint auch der regierenden AKP bewusst zu sein: Eines der wesentlichen Versprechen der Regierung war, den Ausnahmezustand nach dem Referendum zu beenden. Gleich am Montag nach dem Wahltag wurde der Ausnahmezustand jedoch um drei Monate verlängert.

Ilker Ataç arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe INEX-The Politics of Inclusion and Exclusion am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zu Migrationspolitik und Citizenship, sozialen Bewegungen und türkischer Politik. (Foto: faces of attac)

Polarisierte Gesellschaft

Mit dem Referendum kam es zu einem grundsätzlichen Wechsel des politischen Systems in der Türkei. In den nächsten Monaten wird das Parlament viele Gesetzesänderungen beschließen müssen, um das türkische Präsidialsystem einzuführen. Dabei wird der knappe Wahlausgang als Damoklesschwert wirken.

Das Ergebnis zeigt eine polarisierte Gesellschaft. Im Kontext des Ausnahmezustands konnte Erdoğan die Hälfte der WählerInnen für ein "Ja" mobilisieren. Der Einfluss der charismatischen Persönlichkeit von Erdoğan und die Mobilisierung über politische Zugehörigkeit und Feindbilder sowie das Versprechen "die Türkei einig und stark zu machen" wirkte jedoch nur bei der Hälfte der WählerInnen. Die andere Hälfte ist explizit gegen das Präsidialsystem und mit der Politik von Erdoğan nicht einverstanden. Es bleibt abzuwarten, ob die polarisierende und repressive Politik fortgeschrieben wird oder die Forderungen des "Nein"-Lagers berücksichtigt werden.

Chance für das "Nein"-Lager

Zugleich bildet der knappe Wahlsieg eine Chance für das "Nein"-Lager. Ähnlich wie bei den Gezi-Protesten 2013 und der Wahl im Juni 2015, bei der die HDP 13 Prozent der Stimmen erhielt und die AKP neun Prozent ihrer Stimmen verlor, könnte das knappe Ergebnis die Hoffnung stärken, dass eine erfolgreiche Mobilisierung möglich und die Macht Erdoğans einschränkbar ist. Dies bleibt auch eine Herausforderung für die Opposition, weil innerhalb des "Nein"-Lagers grundsätzliche Unterschiede in ideologischer und sozialer Hinsicht existieren.

Wirtschaftswachstum bleibt wichtig

Eine wichtige Herausforderung in den nächsten Monaten wird sein, die ökonomische Stabilität und die Wachstumsdynamik fortzusetzen. Das letzte Jahr war geprägt von einem steigenden Leistungsbilanzdefizit, sinkender Wachstumsraten und steigender Arbeitslosigkeit. Die ökonomische Prosperität bleibt wichtig für die Zustimmung zu Regierungsarbeit – auch unter dem neuen politischen System. Falls die AKP-Regierung es in diesem Kontext nicht schafft, eine Politik zu machen, die über enge politische Zugehörigkeit und gesellschaftliche Polarisierung hinausgeht, ist eine Vertiefung der politischen und ökonomischen Krise voraussehbar.