Seidenstraße

Schreiberhände lesen

3. April 2019 von Hanna Möller
Leben und Handeln entlang der spätantiken Seidenstraße – davon erzählen Textfragmente, verteilt auf Sammlungen in der ganzen Welt. In seinem aktuellen START-Projekt bündelt Sprachwissenschafter Hannes A. Fellner die Bruchstücke digital und bestimmt so die "Schreiberhände von damals".

Mit der Karawane von Oasenstadt zu Oasenstadt: Entlang der Seidenstraße gab es schon 2.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung florierenden Fernhandel. Die Ost-West-Route verband das heutige China über Zentralasien mit Südostasien, dem Nahen Osten und Europa. Getauscht wurden nicht nur Stoffe, Bronze oder Gewürze, sondern auch Kulturtechniken und Ideen, erklärt Sprachwissenschafter Hannes A. Fellner, der sich im Rahmen seines aktuellen START-Projekts an der Universität Wien mit der Seidenstraße beschäftigt.

Sein Spezialgebiet ist das Tocharische, ein ausgestorbener indogermanischer Sprachzweig, dessen Spuren heute überwiegend in der autonomen Region Xinjiang im nordwestlichen China zu finden sind. Tocharisch war gemeinsam mit dem altindischen Sanskrit und dem ostiranischen Khotansakisch die bedeutendste Sprache der alten östlichen Seidenstraße und hat sich in den ersten Jahrhunderten nach unserer Zeitrechnung vom buddhistischen Königreich Kucha aus im zentralasiatischen Tarimbecken verbreitet – so Fellners "Out of Kucha-Hypothese".

Mit jeder Sprache, die geht, verlieren wir eine spezielle Perspektive auf die Welt.
Hannes Fellner

Buddhismus schreiben

Mit zunehmenden Reichtum aus Handelsgeschäften entwickelten sich buddhistische Klöster und prunkvolle Gebetsstätten in der Region. Ähnlich wie die mittelalterlichen Klöster in Europa waren die buddhistischen Gemeinden Ausgangspunkt der Schriftkultur. "Die ursprünglich in Indien kreierte Brahmi-Schrift wurde in einer Variante, die wir Tarim-Brahmi nennen, an der östlichen Seidenstraße für Sanskrit, Tocharisch und Khotansakisch adaptiert und auf chinesischem Papier geschrieben. Die frühen Textzeugnisse aus Xinjiang gehören zu den ältesten uns bekannten Manuskripten des Buddhismus", weiß Fellner.

Rund zwei Drittel der vorhandenen Manuskripte in Tarim-Brahmi sind buddhistische Texte, doch auch wissenschaftliche Abhandlungen, Briefe und Liebesgedichte sowie Schriften zur Medizin oder Ökonomie erzählen vom Leben entlang der Seidenstraße: "Wir verfügen zum Beispiel über sogenannte Karawanenpässe, die Händler auf ihren Reisen vor überhöhten Einfuhrzöllen oder Überfällen schützen sollten, und haben relativ detaillierte Listen, welche Güter transportiert wurden – diese Texte zählen zu den ältesten direkten Zeugnissen von Handel auf der Seidenstraße".

Textfragmente im Wüstensand

Im Tarimgebiet erstreckt sich, eingeschlossen von Gebirgsketten, eine der trockensten Wüsten der Welt – perfekte Bedingungen für die Konservierung der alten Schriften. Dennoch sind Texte in Tarim-Brahmi nur noch fragmentarisch erhalten. "Als strategisch wichtige Region war das heutige Xinjiang schon immer umkämpft, allein im siebten Jahrhundert wurde die Region von vier verschiedenen Großreichen dominiert. Durch den ständigen Machtwechsel konnten die Bibliotheken nicht überleben", erklärt der Sprachwissenschafter. Jahrhunderte später war die Region von Plünderungen durch die Kolonialmächte betroffen. Verschiedene Nationen gruben an denselben Orten aus, sodass die Manuskripte heute bruchstückartig auf mehrere Sammlungen verteilt sind.

Die vereinten Nationen haben 2019 zum Internationalen Jahr der indigenen Sprachen erklärt. "Ein wichtige Initiative", findet Fellner: "Es gibt geschätzt momentan 7.000 Sprachen, die u.a. von kleinen Communities gesprochen und nicht mehr weitergegeben werden. Wir gehen davon aus, dass 2050 bereits die Hälfte der Sprachen verschwunden sein wird. Eigentlich sollte das Jahrhundert der indigenen Sprachen ausgerufen werden, denn mit jeder Sprache, die geht, verlieren wir eine spezielle Perspektive auf die Welt."

International Year of Indigenous Languages

Digitales Verzeichnis für Tarim Brahmi

Die gute Nachricht: Nahezu alle Schriftstücke aus dem Tarimbecken sind mittlerweile digitalisiert. Die schlechte: Sie sind nicht systematisch aufgearbeitet. Hannes A. Fellner möchte Abhilfe schaffen. Ziel seines START-Projekts ist es, die vorhandenen Sanskrit-, Tocharisch- und Khotansakisch-Manuskripte – zwischen 80.000 und 100.000 Fragmente – in einer Online-Datenbank zugänglich zu machen und für weitere Untersuchungen zu bündeln.

Das digitale Verzeichnis ist aber nur der "Unterbau" für seine eigentliche Forschung, nämlich die umfassende Analyse der Tarim-Brahmi-Schrift. Wer was wann, wo und wie geschrieben hat, sind die klassischen Fragen der Paläografie, konnten aber für das Tarimbecken in der Spätantike bisher nur ansatzweise beantwortet werden. "In der Datenbank werden die Texte mit Fotografien verknüpft, sodass einzelne Zeichen, Zeichenkombinationen oder Wörter computergestützt herausgelesen werden können", freut sich Fellner und leistet damit Pionierarbeit: "Erstmals wird es möglich sein, Schreiberhände zu bestimmen und regionale bzw. zeitliche Varianten auszumachen."

Verschiedene Orte, verschiedene Varianten

Das Tocharische und das Khotansakische sind wie das Deutsche durch mehrere Entwicklungsstufen gegangen. Eine große Frage ist nach wie vor, ob und wie die unterschiedlichen Schreibschulen geographisch mit den verschiedenen Varianten dieser Sprachen korrelierten: "Es gab keine einheitlichen Hochsprachen. Wir wissen von Orten, an denen 'archaischer' gesprochen bzw. geschrieben wurde als an anderen." Ein Grund dafür ist, dass die Oasenstädte teilweise hunderte Kilometer voneinander getrennt und geographisch von Wüste geprägt waren. Sprachkontakt bzw. Interaktion von Schreibschulen fand nur vereinzelt statt. "Man kann sich das in die Jetzt-Zeit übersetzt so vorstellen, als hätten wir regionale Varianten von unserem heutigen Deutsch, die mit karolingischen Minuskeln geschrieben werden", veranschaulicht Fellner schmunzelnd.

Die tocharische Sprache wurde erst vor rund 100 Jahren entdeckt. Die vielen offenen Fragen und Rätsel, die es noch zu lösen gilt, haben Hannes A. Fellner schon immer gereizt. Unter anderem sein Verdienst ist es, dass die am wenigsten erforschte indogermanische Sprache bald am besten digital zugänglich sein wird.

© Hannes A. Fellner
© Hannes A. Fellner
Hannes A. Fellner ist seit 2019 assoziierter Professor am Institut für Sprachwissenschaft. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. historische Linguistik, indo-europäische Morphologie, tocharische Philologie und Linguistik sowie Zentralasien- und Seidenstraßenforschung.

Nach Mitarbeit im FWF-Projekt "A Comprehensive Edition of Tocharian Manuscripts" unter der Leitung von Melanie Malzahn erhielt er 2018 den START-Preis des FWF und forscht seitdem zu den "Characters that shaped the Silk Road.