Sommerdiskurs: Die EU und die Pandemie

Nach der coronabedingten Pause konnte der Sommerdiskurs der Universität Wien von 4. bis 6. August 2021 wieder stattfinden. Im Zeichen der Zeit diskutierten die teilnehmenden Vertreter*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik über "Europa nach der Pandemie und vor neuen Herausforderungen".

Die Keynote zum diesjährigen Sommerdiskurs hielt Martin Semayr, der Leiter der EU-Delegation in Österreich, auf Einladung von Sommerdiskurs-Gründer und Direktor Franz-Stefan Meissel. Sein Vortrag beschäftigte sich damit, welche Lehren Europa aus den Erfahrungen der Pandemie zu ziehen hat. Zunächst drückte er aber seine Freude darüber aus, endlich wieder Studierenden direkt gegenüberstehen zu können (wenn auch mit Maske): Seit vergangenem Jahr lehrt der Jurist und ehemalige Generalsekretär der Europäischen Kommission an der Universität Wien.

Europa "nach" der Pandemie

Selmayr erinnerte an den Beginn der Pandemie. Die erste Reaktion sei "Ellbogenstrategie gewesen, Stichwort: Hamsterkäufe oder Lieferstopp von Masken. Innereuropäische Grenzen wurden geschlossen, weltweit begann ein Wettkampf um Impfstoff.

Doch es habe auch positive Entwicklungen gegeben: Unter anderem führte die gemeinsame Herausforderung zu einer stärkeren Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Die symmetrische Bedrohungslage erforderte gemeinsames Handeln – im Gegensatz zur Finanz- oder Flüchtlingskrise, die einige Länder besonders hart und andere kaum betroffen hatte.

Selmayr lobte vor allem die schnelle Einigung der Mitgliedsstaaten, finanzielle Mittel zur Unterstützung der Unternehmen und Arbeitnehmer*innen zur Verfügung zu stellen, und den Beschluss für das 750 Milliarden Euro schwere Wiederaufbauprogramm. Auch der gemeinsame Impfstoffkauf sei letztlich ein Erfolg: Mittlerweile stehe die EU mit einer durchschnittlichen Impfrate von 70 Prozent im internationalen Vergleich sehr gut da. Nur die USA habe ein ähnliche Durchimpfungsrate.

Zukünftige Herausforderungen – kommt die dritte Impfung?

Sollten sich Expert*innen einig sein, dass eine dritte Impfung nötig werde, stelle das kein Problem dar, so der Vertreter der EU-Kommission: "Die EU hat ausreichend Impfstoff bestellt. Der nächste Schritt ist der wirtschaftliche Wiederaufbau." Neben Klimawandel und Migrationsbewegungen liege die größte unmittelbare Herausforderung für die EU laut Selmayr im Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit durch einige Mitgliedsstaaten.

Weitere Schwerpunkte des diesjährigen Sommerdiskurses

Im Sommerdiskurs präsentiert sich die Universität Wien als öffentlicher Raum, als Ort der sozialen Interaktion, als Forum des Nachdenkens und der Diskussion. Multidisziplinäre Vorträge und Workshops bilden den Rahmen für gemeinsames Reflektieren, Positionieren und Diskutieren. Als Vortragende konnten wieder renommierte Wissenschafter*innen und Expert*innen gewonnen werden.

Am Donnerstagvormittag sprachen die Medien- und Kommunikationsexpertin Kristin Hanusch-Linser, der Geschäftsführer des KHM-Museumsverbands Paul Frey und der Arbeitsrechtsanwalt Roland Gerlach über Pandemieerfahrungen und die Zukunft der (Arbeits-)Welt in der EU. In zwei Workshops ging die Politikwissenschafterin Sylvia Kritzinger von der Uni Wien der Frage nach, wie die Pandemie nationalstaatlichen Stolz und Patriotismus ("Rally around the Flag") in Frankreich und Österreich in unterschiedlicher Weise beeinflusst hat, und unter der Leitung von Rechtswissenschafterin Michaela Windischgrätz von der Uni Wien moderierten Magdalena Lenglinger und Helena Palle eine Debatte zu Fragen der Impfpflicht aus arbeitsrechtlicher Sicht.

Die Präsidentin des Berufsverbandes Österreichischer Psycholog*innen und Public Health-Expertin Beate Wimmer-Puchinger, der Geschäftsführer des WWTF Michael Stampfer und "DerStandard"-Wissenschaftsredakteur Klaus Taschwer gaben am Nachmittag Input zu "Lehren aus der Pandemie in Medizin, Wissenschaft und Gesellschaft". Diskutiert  wurden Themen wie Quellensicherheit und Nachvollziehbarkeit bei der Verwendung von Daten, Kommunikationsfehler und die Nicht-Berücksichtigung von Gesellschaftsgruppen bei der Maßnahmenplanung der Regierung.

Brauchen wir neue Grundrechte?

Die Frage nach der Notwendigkeit neuer Grundrechte stand zum Abschluss des Sommerdiskurses im Zentrum. Dazu referierten Medizinrechtsexperte Karl Stöger und  Digitalisierungsexperte Nikolaus Forgó, beide Uni Wien. Die Herausforderungen in Bezug auf Künstliche Intelligenz wurden im Anschluss in drei Workshops vertieft, engagiert gestaltet durch den Medienmanager Helmut Hanusch sowie Karina Karik, Paola Lopez, David Bierbauer, Julian Pehm, Fellows der Doktoratsschule "Advanced Research School in Law and Jurisprudence" der Uni Wien.

Kulturhistorisches Highlight war auch heuer wieder das Abendgespräch im Rahmen der Kooperation "Das KHM zu Gast am See". Daniel Uchtmann sprach eindrücklich über "Coronas Ahnen: Masken und Seuchen von 1500 bis 1918" und präsentierte Andrea Mantegnas Heiligen Sebastian als Pandemieheiligen. (red)