Schlüssel in die Vergangenheit
| 10. März 2020Es ist ein ganz besonderer Ort für weitgehend unbekannte Frauen. In der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte finden Selbstzeugnisse von Frauen – darunter Briefe, Tagebücher, Schulhefte oder Fotoalben – einen würdigen neuen Platz und bereichern als Quellen die Forschung und Lehre.
Der Nachlass einer Schriftstellerin würde schon allein aus Platzgründen keinen Einlass finden in die Sammlung Frauennachlässe, stellt die Historikerin und Leiterin der Einrichtung Christa Ehrmann-Hämmerle gleich zu Beginn und mit Referenz auf den aktuellen und umfangreichen Vorlass von Friederike Mayröcker fest. Dieser Ort ist ganz speziell für jene Frauen oder Paare reserviert, deren lebensgeschichtliche Aufzeichnungen in anderen Archiven normalerweise keinen Platz haben.
Über 400 Nachlässe umfasst die Sammlung bereits, der Großteil stammt von Frauen, die nicht in der Öffentlichkeit standen – wie etwa von einem Dienstmädchen aus Ungarn, das in Wien arbeitet, oder mehreren Lehrerinnen und Büroangestellten. Es ist aber auch die erste Frau dokumentiert, die Österreich als Botschafterin entsandt hat. "Wir haben zudem Frauen wie Tilly Hübner, eine wichtige Akteurin in der ersten bürgerlichen Frauenbewegung, deren Bedeutung aber völlig in Vergessenheit geraten war und erst durch die Frauen- und Geschlechtergeschichte auf Basis ihres Nachlasses wieder erarbeitet wurde", nennt Ehrmann-Hämmerle auch gleich das wichtigste Anliegen des Archivs: das Sichtbarmachen von Frauen und ihrer Geschichte.
Erinnerungen erhalten
Die bunte Sammlung an verschiedensten Aufzeichnungen, vom Haushaltsbuch bis zum Liebesbrief, ist auch ein Abbild vergangener Dokumentationsweisen und -praktiken, stellt Li Gerhalter fest, die die Sammlung betreut. "Die Frage ist, wer hatte überhaupt die Möglichkeit zu schreiben und diese Dinge aufzubewahren? In einer kleinen Arbeiter*innenwohnung in Ottakring wird das nicht so leicht möglich gewesen sein wie in einem bürgerlichen Haushalt im ersten Bezirk." Aus diesem Grund kommen besonders umfangreiche Nachlässe, die manchmal sogar mehrere Generationen umfassen, eher aus bürgerlichen Milieus. 100 Archivboxen umfasst der größte in der Sammlung beheimatete Nachlass, der über drei Generationen geht, er stammt von der bereits erwähnten Tilly Hübner.
"Letztlich ist die Beschäftigung mit den Dokumenten richtige Puzzlearbeit, wo man aus den Einzelteilen Lebensgeschichte konstruiert."
Christa Ehrmann-Hämmerle, Historikerin an der Universität Wien, Leiterin der Sammlung Frauennachlässe (© P. Brauner)
Die Begeisterung, wenn die Kiste aufgeht, ist Christa Ehrmann-Hämmerle und Li Gerhalter anzusehen: "Was ist drinnen? Von wem ist es? Welchen Lebenslauf hatte diese Person?", fragen sich die Historikerinnen dann. Meist bringen Nachfahr*innen die Nachlässe zu uns, erzählt Gerhalter. Diese Menschen freuen sich, wenn sie etwas geben können, sie möchten, dass auf diese Weise die Erinnerung an eine bestimmte Person erhalten bleibt, oder auch, dass man sich an ein spezielles Thema erinnert, etwa an die Teilhabe am Nationalsozialismus.
Vom Zettel bis zum E-Mail
Für alle Bestände gilt: Sämtliche Materialien müssen der Forschung offenstehen, zu benutzen sind sie ausschließlich vor Ort. Online findet man den Katalog mit beschreibenden Texten zu jedem Nachlass, einzelne Quellen werden jedoch für gewöhnlich nicht digitalisiert, dazu fehlten schlicht die Ressourcen, so Gerhalter. "Außerdem könnte man nur jene Quellen digitalisieren, für die die Rechte dazu eingeholt werden können – bzw. für die der Personenschutz nicht mehr relevant ist", ergänzt Ehrmann-Hämmerle. Das vorhandene Material stammt schwerpunktmäßig aus dem Zeitraum Mitte 19. bis Mitte 20. Jahrhundert, reicht aber bis in die Gegenwart. Vereinzelt finden sich sogar bereits ausgedruckte E-Mail- und SMS-Korrespondenzen.
"Faszinierend, mit Originalen zu arbeiten"
Beforscht wird das Material von Wissenschafter*innen aus dem In- und Ausland. Doch auch in Lehrveranstaltungen kommen die Bestände zum Einsatz. "Die Studierenden sind meistens fasziniert, wenn sie mit den Originalen arbeiten", so Ehrmann-Hämmerle. "Das riecht, man kann es angreifen, es ist auch haptisch ein Erlebnis, und das gehört ja auch zur Forschung dazu", schwärmt die Professorin, die sich an ein ganz besonderes Tagebuch erinnert, wo sogar Tränen als Wasserflecken zu erkennen sind.
"Die Frage ist, wer hatte überhaupt die Möglichkeit zu schreiben und diese Dinge aufzubewahren?"
Li Gerhalter, Historikerin, stellvertretende Leiterin der Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien (© privat)
Auch Anfragen von Autor*innen, die sich von den persönlichen Aufzeichnungen für Romane oder Spielfilme inspirieren lassen wollten, habe es schon gegeben, erzählt Ehrmann-Hämmerle. Das jedoch ist nur möglich, wenn es der ausdrückliche Wunsch der Nachlassgeberin war. Außerdem werde die Mühsal der Informationsbeschaffung ohnehin meistens unterschätzt. Die Handschrift, meist in Kurrent, muss entziffert werden, die oft lückenhaften Fragmente werfen viele Fragen auf, man sucht nach Belegen und Zuordnungen. "Letztlich ist die Beschäftigung mit den Dokumenten richtige Puzzlearbeit, wo man aus den Einzelteilen Lebensgeschichte konstruiert und kontextualisiert", so Ehrmann-Hämmerle.
Lesen Sie den gesamten Beitrag in der März-Ausgabe von univie, dem Alumnimagazin der Universität Wien.