"Ökonomische Probleme überwiegen bald"
| 17. März 2020Die ökonomischen Folgen, die durch die Maßnahmen gegen das Coronavirus entstehen, werden vermutlich bald zum vordringlichsten Aspekt der Krise werden, vermutet Uni Wien Historiker Philipp Ther. Um die Krise zu bewältigen, müsse man "dringend darüber nachdenken, wie die Lasten tatsächlich verteilt sind".
Suche man nach halbwegs passenden historischen Präzedenzfällen in unseren Breiten, werde man am ehesten bei der Spanischen Grippe in den Jahren 1918 und 1919 fündig. Der Kontext mit dem Ende des Ersten Weltkrieges sei laut Philipp Ther allerdings ein völlig anderer gewesen. "Die Frage für mich als Historiker ist: Wie lange man einen faktischen Ausnahmezustand wirklich aufrechterhalten kann?" Zwar sei jetzt die Zustimmung zu den Maßnahmen hoch, die sehr weit in den Ablauf des öffentlichen und privaten Lebens sowie in Grundrechte hineinwirken, "aber das eigentliche Problem wird dann sehr schnell auch ein Ökonomisches", sagt Philipp Ther vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien.
Für viele Unternehmen eine Überlebensfrage
Gerade in Österreich mit seinen vielen mittleren und kleinen Betrieben werde die Krise mitunter zur Überlebensfrage. Bei den bisher gesetzten Maßnahmen stelle sich die Frage, ob die "ökonomische Herausforderung schon ausreichend im Fokus gestanden ist". Angesichts zu erwartender höherer Arbeitslosenzahlen würden auch Fragen zur Höhe der Sozialabgaben oder der Mieten in den Mittelpunkt rücken, die, laut Ther, dann ja "dringend reduziert" werden müssten.
Coronavirus: Wie es unser Leben verändert
Von neuen familiären Abläufen bis hin zu den Auswirkungen auf Logistikketten: Expert*innen der Universität Wien sprechen über die Konsequenzen des Coronavirus in den unterschiedlichsten Bereichen.
Zum Corona-Dossier
Diskussionen um Menschenrechte
Für den Wissenschafter, der u.a. zur Geschichte der Transformation seit den 1980er-Jahren, zur Sozial- und Kulturgeschichte Ostmitteleuropas oder zum Nationalismus forscht, ist auch interessant, dass bei der Verkündung solch weitreichender Maßnahmen in vielen Ländern "von Bürger- oder Menschenrechten überhaupt nicht mehr die Rede ist. Da ist meine Sorge schon, dass dieser Ausnahmezustand auch Rück- und Einschnitte in diesen Bereichen mit sich bringen kann, die später nicht mehr zurückgenommen werden können". Wenn Teile der Bevölkerung Maßnahmen dann einmal nicht mehr mittragen, käme etwa in Fragen zum Demonstrationsverbot neue Dynamik. Diskussionen über Bürgerrechte würden laut Ther in näherer Zukunft vermutlich auch wieder zunehmen, "dann ist es vielleicht aber auch schon etwa spät".
Zerfall der internationalen Ordnung
Im Moment mache es auch den Anschein, "dass die internationale Ordnung zerfällt und in der Stunde der Not sich wieder alles auf den Nationalstaat zurückzieht", sagte Ther. Das sei auch ein Stück weit logisch, weil die EU im Bereich der Gesundheitspolitik wenig Kompetenzen habe. Gerade für die hochgradig von der internationalen Vernetzung abhängigen kleineren und mittleren Staaten Europas, wie Österreich, könnte eine Reduktion der Zusammengehörigkeit und Kooperation negative Effekte haben. Gleichzeitig habe man den Eindruck, dass "bestimmte politische Kreise den Rückfall auf den Nationalstaat geradezu begrüßen. Auf die Dauer ist es angesichts der Integriertheit der europäischen Volkswirtschaften aber eine völlig irrige Annahme, dass man innerhalb dieses Rahmens neuen Wohlstand erzeugen kann", so der Historiker, der sich auch stark mit sozialen Folgen von Wirtschaftsreformen und ihren regionalen und sozialen Auswirkungen beschäftigt.
Bei der Bewältigung der Krise müsste man vermutlich auch darüber nachdenken, wie die Lasten tatsächlich verteilt sind. Die Frage sei u.a. auch, ob nicht "Berufsgruppen, die von den Einschnitten rein finanziell relativ wenig betroffen sind, vielleicht einen besonderen Beitrag leisten müssten, um denen zu helfen, die jetzt am stärksten darunter leiden". (APA/red)
Philipp Ther promovierte und habilitierte sich an der FU Berlin und ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien. Hier leitet er auch das Research Cluster for the History of Transformation (RECET). Für sein Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa" (Suhrkamp, 2014) erhielt Philipp Ther 2015 den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse. (© Theresa Dirtl)