Naturkatastrophen aus der Sicht der Naturwissenschaft
| 16. Mai 2012Im Dossier "Naturkatastrophen" veröffentlichen Vortragende der Ringvorlesung "Naturkatastrophen und ihre Bewältigung" ihre Beiträge. Wolfgang Lenhardt beschäftigt sich in seinem Artikel mit Vorhersagemöglichkeiten, Ursachenformen und Gefährdungspotenzialen von Naturkatastrophen.
"Naturkatastrophen werden immer häufiger!" Das ist eine gängige und glaubhafte Feststellung, mit der man immer wieder konfrontiert wird, sei es in den Medien oder in Vorträgen. Die Naturwissenschaft hat sich immer schon im Spannungsfeld zwischen Panikmache und Beruhigung befunden, als deren Hauptakteure die Medien zum einen und die Wissenschaft zum anderen verstanden werden können. Hinzu gesellt sich oft auch eine Komponente der politischen oder religiösen Verzerrung, die temporär sogar eine Verkehrung der zeitgemäßen Erkenntnis und der sozialen Entwicklung bewirken kann, wenigstens aber deren Stillstand.
Alles messbar? Ansichtssache!
Betrachtet man Naturkatastrophen von einer naturwissenschaftlichen Perspektive, so sind drei Grundregeln zu berücksichtigen, die eine Objektivität und Richtigkeit von Behauptungen gewährleisten sollen: Messbarkeit, Falsifizierbarkeit und Reproduzierbarkeit.
Messbarkeit ist Ansichtssache, könnte man sagen. Welche physikalische Messgröße kann schon objektiv bestimmt werden? Skalen sind zudem Konventionen. Aber was messen wir, wenn wir zum Beispiel die Temperatur bestimmen wollen? Wir beobachten die Ausdehnung von Quecksilber, die auf einer Skala, die der Temperatur entspricht, abgebildet wird.
Versuch einer Kategorisierung
Neben der Betrachtung der Aggregatzustände und deren Änderungen im Laufe eines physikalischen Prozesses ist es in der Wissenschaft oft üblich, Kategorien einzuführen, die Klassen unterschiedlicher Ursachen oder Auswirkungen voneinander abgrenzen. Diese Trennung der Phänomene gestattet oft eine spezifische mathematische Behandlung, die unter Umständen sogar wieder eine Zusammenführung von bestimmten Kategorien erlaubt – und somit eine Reduktion der Klassen.
Zur Ursache und Auswirkung von Erdbeben: Ursache ist die Verschiebung einer Bruchfläche im Inneren, Auswirkung sind die resultierenden Schäden an der Erdoberfläche. (Quelle: W. Lenhardt) |
Ursachen
Naturkatastrophen lassen sich hinsichtlich ihrer Auswirkungen, aber speziell durch ihre Ursachen, in verschiedene Gruppen einteilen. Stellt man die Ursachen voran, so unterscheiden wir Erdbeben, Vulkanausbruch, Einsturz, Fels- und Bergsturz, Hangrutschung, Mure, Tsunami, Hochwasser, Wildwasser, Sturmflut, Sturm, Klimaveränderung (Hitzewellen, Kälteperioden ...), Waldbrand und Impakt. Jede dieser Kategorien zählt zu einer bestimmten Ursachenform, die sich physikalisch von den anderen unterscheidet.
Lesen Sie mehr zum Thema Naturkatastrophen im gleichnamigen uni:view-Dossier. |
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Eine weitere Kategorisierung betrifft die "Plötzlichkeit", die für das Überraschungsmoment bzw. der Zeitdifferenz zwischen dem Erkennen einer potenziellen Ursache und dem Eintritt von Auswirkungen steht:
> Sekunden bis Minuten: Einsturz von Dolinen, Erdbeben, Felssturz
> Minuten bis Stunden: Erdbeben, Tsunami, Bergsturz, Mure, Wildwasser
> Stunden bis Tage: Hangrutschung, Waldbrand, Sturm, Hochwasser
> Tage bis Wochen: Vulkane, Hangrutschung, Waldbrand, Impakt
> Wochen bis Monate: Vulkane, Hangrutschung
> Monate bis Jahre: Hitzewellen, Kälteperioden
Vorhersage
Eine Vorhersage bezieht sich auf das Eintreffen eines Naturereignisses und ist definiert durch die Angabe des Orts, der Zeit, der Stärke und der Wahrscheinlichkeit eines zu erwartenden Ereignisses. Sind Menschen in großem Ausmaß betroffen, so wird das Ereignis zur Katastrophe. Der kritischste Parameter ist die Zeit, sieht man einmal von Ort, Ursache und Wirkung ab. Je nach Typ des Ereignisses stehen dem Menschen unterschiedlich lange Zeiträume zum Ergreifen geeigneter Maßnahmen zur Verfügung. Praktisch gesehen bedeutet das, dass manche Regionen eine "Vorhersagezeit" von Monaten benötigen, und in manchen Fällen genügen Stunden oder Minuten, da nur kleinräumige Bereiche betroffen sind.
Gefährdung
Der Begriff der Gefährdung wird in der Naturwissenschaft als Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Ereignisses bestimmter Stärke verstanden. Eine geographische Darstellung einer Gefährdung beschreibt dann einen bestimmten Ereignishorizont. Unter Horizont versteht man in diesem Fall eigentlich eine Ebene, die eine Eigenschaft gemeinsam hat – wie einer Potenzialfläche in der Physik. So lässt sich eine Karte erzeugen, die die erdbebenbedingte Bodenbewegung mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darstellt. An der Kenntnis von den Folgen eines Naturereignisses (Risiko) sind immer häufiger Landeswarneinrichtungen, Versicherungen und die Bauindustrie interessiert. Ein guter persönlicher Motivationsansatz ist einfach der Gedanke an den Selbstschutz.
Univ.-Doz.Dr. Wolfgang Lenhardt ist Leiter der Abteilung Geophysik an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG).