"Mobilfunkdaten können Maßnahmen gezielter machen"

Mobilfunk-Datensammlung

In Zusammenarbeit mit NGOs, Mobilfunkunternehmen und Unis auf der ganzen Welt untersucht der Geograph Harald Sterly aus der Arbeitsgruppe von Patrick Sakdapolrak der Uni Wien, wie aggregierte Mobilfunkdaten dazu beitragen, Corona-Maßnahmen gezielter zu gestalten und publizieren dazu aktuell in Science Advances.

Die COVID-19-Pandemie stellt Regierungen und Gesellschaften auf der ganzen Welt vor enorme Herausforderungen. Neben medizinischen Maßnahmen sind auch nicht-pharmazeutische Maßnahmen entscheidend, um die Ausbreitung des Virus zu verzögern und einzudämmen. Zu diesen Maßnahmen gehören "aggressives" Testing and Tracing, Versammlungsverbote, die Schließung von Geschäften, Schulen und Universitäten sowie Reisebeschränkungen bis hin zu kompletten Ausgangssperren.

Eine wirksame und schnelle Entscheidungsfindung in allen Phasen der Pandemie erfordert jedoch zuverlässige und zeitnahe Daten – nicht nur über Infektionen, sondern auch über das Verhalten von Menschen, insbesondere über die Mobilität und die physische Nähe zu anderen.

Maßnahmen in Echtzeit analysieren

Grundlegende Arbeiten zur menschlichen Mobilität haben bereits gezeigt, dass Mobilfunkdaten die epidemiologische Modellierung unterstützen können. Es existieren mittlerweile zahlreiche Initiativen, in denen Forscher*innen, Regierungen und Mobilfunkbetreiber zusammenzuarbeiten, um die Wirksamkeit von Kontrollmaßnahmen oder die Mobilitätsströme in Echtzeit abzuschätzen. Die meisten dieser Initiativen kamen jedoch überraschend spät, außerdem gibt es auf internationaler Ebene kaum Koordinierung oder Informationsaustausch.

Derzeit werden unterschiedliche Mobilfunkdaten für Kontrollmaßnahmen genutzt: Abrechnungsdaten der Betreiber (sogenannte "Call Detail Records"), GPS-Daten aus unterschiedlichen Smartphone-Apps sowie Gesundheits- und Bluetooth-Daten aus spezifischen "Corona-Apps".

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Der Vorteil von Abrechnungsdaten

Während die Nutzung von individualisierten Daten in erster Linie aus speziellen Apps als vielversprechend eingeschätzt wird, gibt es vor allem in westlichen Industrieländern große Datenschutzbedenken. In ärmeren Ländern scheitern solche "Corona-Apps" oft an der mangelnden Verbreitung von Smartphones.

Abrechnungsdaten dagegen werden ohnehin erhoben und enthalten Informationen über die Zeit und (ungefähre) geographische Lage, sodass daraus schnell und leicht aggregierte Bewegungsströme abgeleitet werden können. Diese Daten sind für Epidemiologen sehr hilfreich, um den Verlauf der Epidemie vorherzusagen und zu kontrollieren – zum Beispiel durch die Bereitstellung dynamischer Herkunfts-Ziel-Matrizen, oder der Identifikation von Hotspots, an denen sich Menschen in hoher Dichte aufhalten.

Kaum strategisch eingesetzt

Gegenwärtig werden solche Mobilfunkdaten allerdings immer noch kaum strategisch zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie eingesetzt – von einigen wenigen Ländern abgesehen. Dies ist auf eine Kombination von Faktoren zurückzuführen, etwa dem schwierigen Zugang zu Daten, der mangelnden Kommunikation zwischen Wissenschaft, Mobilfunkbetreibern und Regierungen, und natürlich den bestehenden Datenschutzbedenken.

Wir als Forscher*innen schlagen deshalb eine Reihe konkreter Metriken und Schritte vor, mit denen das Potenzial von Mobilfunkdaten genutzt werden kann, um die Pandemie zu bekämpfen, allen voran diese drei Punkte:


•    Frühzeitige Kontaktaufnahme von Wissenschafter*innen mit Regierungen, Datenschutzbehörden und Mobilfunkbetreibern
•    Erarbeitung einer Strategie zur Datenaufbereitung für alle Phasen der Pandemie
•    Internationale Zusammenarbeit zu bewährten Praktiken und Code-Sharing

Harald Sterly ist Universitätsassistent in der Arbeitsgruppe für Bevölkerungsgeographie und Demographie am Institut für Geographie der Universität Wien unter der Leitung von Patrick Sakdapolrak. Er forscht zu räumlichen und sozialen Aspekten von Migration, Urbanisierung und technologischem Wandel insbesondere in Entwicklungsländern. (© privat)

Die Publikation "Mobile phone data for informing public health actions across the COVID-19 pandemic life cycle" (Autor*innen: Nuria Oliver, Bruno Lepri, Harald Sterly, Renaud Lambiotte, Sébastien Delataille, Marco De Nadai, Emmanuel Letouzé, Albert Ali Salah, Richard Benjamins, Ciro Cattuto, Vittoria Colizza, Nicolas de Cordes, Samuel P. Fraiberger, Till Koebe, Sune Lehmann, Juan Murillo, Alex Pentland, Phuong N Pham, Frédéric Pivetta, Jari Saramäki, Samuel V. Scarpino, Michele Tizzoni, Stefaan Verhulst and Patrick Vinck) ist am 27. April 2020 in Science Advances erschienen.