"Mit dem Finger zeigen vorsichtig sein"
| 23. November 2015"Die Regierungen Osteuropas schotten sich gegenüber den Flüchtlingen ab" – so und ähnlich ist es in vielen europäischen Medien zu lesen. Dass derart pauschalisierende Schlagzeilen problematisch sind und wie sich die Lage tatsächlich gestaltet, erklärt Osteuropa-Experte Philipp Ther im Interview.
uni:view: Medial wird Osteuropa oft als Negativbeispiel inszeniert. Ist an diesen Darstellungen etwas dran?
Philipp Ther: Da muss man differenzieren. Erstmals geht es dabei nur um die neuen EU-Mitgliedsländer – Osteuropa im weiteren Sinn würde Russland miteinschließen und das hat mittlerweile offen in Syrien interveniert und ist somit Kriegspartei.
Auch bei den neuen EU-Mitgliedstaaten ist zu unterscheiden: Ungarn ist ja seit Jahren ein Grenzstaat und war mit der Flüchtlingskrise seit langem massiv konfrontiert; es ist als Ankunftsland durchaus mit Italien oder Griechenland vergleichbar. Deswegen gab es dort bereits vor 2015 viele Flüchtlinge. Die EU hat Ungarn damit lange Zeit alleine gelassen – immer mit dem Verweis auf die Dublin-Regelung, die besagt, dass das Erstaufnahmeland für die Flüchtlinge zuständig ist. Das war für die Binnenländer der EU, auch Österreich, eine sehr bequeme Lösung. Insofern sollten die Medien und andere mit dem Finger zeigen vorsichtig sein. Die EU-Binnenländer sind erst seit dem Sommer 2015 massiv mit der sogenannten Flüchtlingskrise konfrontiert, aber sie hätten schon früher mehr tun können, wie z.B. ausreichende finanzielle Mittel für die Flüchtlingslager der UN zur Verfügung zu stellen.
uni:view: Wie reagieren nun die einzelnen osteuropäischen Staaten auf die Krise?
Ther: Ungarn war wie gesagt als Aufnahme- und Transitland massiv betroffen, hat aber ursprünglich viele Flüchtlinge aufgenommen. Eine andere Frage ist, wie viele von diesen AsylbewerberInnen bleiben durften und wie die Verfahren bearbeitet wurden. Es ist also falsch zu behaupten, dass Ungarn von Anfang an auf Flüchtlingsabwehr gesetzt hätte. Mittlerweile ist es so.
Die frühere Regierung Polens – inzwischen ist sie abgewählt worden – hat nach einigem hin und her der EU-Flüchtlingsquote zugestimmt. Das liegt daran, dass es in Polen eine starke Zivilgesellschaft gibt. Zum einen die Linksliberalen, die sich offen dafür ausgesprochen haben, sich mit der EU solidarisch zu zeigen. Zum anderen die Kirche, die von vorne herein schon gesagt hat, dass sich Polen aus Nächstenliebe daran beteiligen soll. Nun hat jedoch nach den Pariser Anschlägen die neue gewählte rechtsnationale Regierung gleich die erste Gelegenheit genutzt, um die polnische Beteiligung an der Verteilung der Flüchtlinge in der EU aufzukündigen. So kommt man in Europa nicht weiter.
uni:view: Dann fehlen noch die Tschechische Republik und die Slowakei …
Ther: Es ist bedauerlich, dass sich diese beiden Länder nicht offener zeigen. Das liegt unter anderem daran, dass die eigenen Migrationserfahrungen – Stichwort 1968, Prager Frühling – schon weit zurück liegen. Sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Slowakei gibt es einen populistischen Wettbewerb in der Politik, wer sich am meisten gegen Flüchtlinge und die Fremden stellt, wie man es in Österreich von der FPÖ kennt.
Buchtipp zum Thema:
"Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa" von Philipp Ther, Suhrkamp Verlag, 2014.
uni:view: Warum finden populistische Politiker gerade in diesen beiden Ländern einen derartigen Nährboden?
Ther: Beide Gesellschaften haben so gut wie keine Erfahrung im Umgang mit muslimischen Minderheiten, wie sie beispielsweise in Wien vorliegen. Aufgrund dessen sind die Ängste besonders groß, übrigens vergleichbar mit Ostdeutschland. Wenn diese Ängste dann noch durch populistische Politiker geschürt werden, ergibt das ein trübes Gebräu.
uni:view: Wie schätzen Sie die neue national-konservative Regierung Polens ein, die nun die Aufnahme von Flüchtlingen ablehnt?
Ther: Die neue Regierung hat sich hier gegen Brüssel gestellt. Das hat aber noch einen anderen Hintergrund, nämlich die Position der Nationalstaaten innerhalb der EU und die Frage, inwieweit die Europäische Kommission in die Souveränität der Nationalstaaten eingreifen kann. Die neue polnische Regierung vertritt die Linie eines Europas der Vaterländer, die nach dem Maastricht-Abkommen und der Entscheidung für eine vertiefte Integration in der Europäischen Union eigentlich überholt ist.
uni:view: Das ist aber kein Spezifikum der neuen EU-Mitgliedsländer…
Ther: Nein, keineswegs. Diesen Grundsatzkonflikt gibt es in der gesamten EU. Das ist auch in westeuropäischen Staaten ein Thema. Deswegen kann man nicht allein von einem fremden- oder flüchtlingsfeindlichen Osteuropa sprechen. Dänemark hat sich sehr abweisend verhalten, längere Zeit auch Großbritannien; Spanien oder Portugal wollten ursprünglich gar keine Flüchtlinge aufnehmen. Das ist ein politischer Graben, der ganz Europa durchzieht. Hier muss man sich auf anhaltenden Widerstand gefasst machen. Nichtsdestotrotz existieren die erwähnten ost-mitteleuropäischen Spezifika.
uni:view: Sie sind nicht nur Osteuropahistoriker, sondern auch Europahistoriker. Wie sehen Sie die nächste Zeit Europas – auch im Hinblick auf die Attentate von Paris – aufgrund der historischen Erfahrung ein?
Ther: Das Schengen-Abkommen, eines der wesentlichen Errungenschaften der europäischen Integration für die BürgerInnen Europas, ist leider kaum noch in Kraft. Wir haben an vielen Grenzen wieder Passkontrollen, erst recht nach den Anschlägen von Paris. Der Auto- und der Zugverkehr aus Österreich nach Deutschland ist massiv beeinträchtigt – all das hat auch wirtschaftliche Folgen, die zur Zeit kaum diskutiert werden. Die Disintegration Europas hat leider in diesem Kontext schon begonnen, und wenn es so weiter geht, mache ich mir große Sorgen, dass sie sich in anderen Bereichen fortsetzen bzw. auch beschleunigen wird. Das verändert natürlich auch die europäische Geschichtsschreibung. Im Moment sieht es leider so aus, als müssten wir uns in nächster Zeit mehr mit der Geschichte der europäischen Disintegration befassen. Man kann nur hoffen, dass die EU – wie sie es schon mehrmals geschafft hat – aus den eigenen Krisen und Fehlern lernt und wieder zu einem neuen Zusammenhalt findet. Es wäre nicht das erste Mal. (td)
Univ.-Prof. Dr. Philipp Ther, MA ist Vorstand des Instituts für Osteuropäische Geschichte der Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät an der Universität Wien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Vergleichende Nationalismusstudien, Migrationsgeschichte mit einem Schwerpunkt auf Zwangsmigrationen und die Geschichte der Transformation seit 1989.