"Lebensmittel nach Hause zu liefern, ist logistisch ein Graus"
| 21. Oktober 2020Seit April ist Jan Fabian Ehmke Professor für Business Analytics an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. In seiner Forschung beschäftigt er sich zum Beispiel mit der Frage, wie Leihräder optimal in der Stadt verteilt werden und Lebensmittel möglichst ökonomisch bei uns zu Hause ankommen.
uni:view: Herr Ehmke, Ihr erster wissenschaftlicher Berührungspunkt mit Wien war ein Forschungsprojekt zur Logistik der Citybikes. Worum ging es?
Jan Fabian Ehmke: Ich war 2007 in Wien im Urlaub und damals sind mir die Citybikes als wirklich sehr innovativ aufgefallen. Ich habe mir dazu eine klassische logistische Frage gestellt: Wie kann man sicherstellen, dass jede*r Kund*in immer ein Rad entlehnen und auch zurückgeben kann? Um ein gutes Servicelevel zu halten, sollte eine Station – vereinfacht gesagt – immer "mittelvoll" sein. Logistisch gesehen ähnelt das Problem einem Lagerhaltungsproblem. Die Verteilung der Räder auf die Stationen ist im Grunde eine komplexe Variante davon.
uni:view: Wie haben Sie sich diesem Problem genähert?
Ehmke: Für unsere Forschung haben wir die Entlehndaten von 2006 bis 2008 analysiert. Im ersten Schritt haben wir geschaut: Wo wird viel entlehnt, wo werden die Räder zurückgegeben? Daraus ergeben sich eine Reihe von wissenschaftlichen Fragen: Wie groß müssen die Stationen sein, wie werden die Räder verteilt? Ein Learning war, dass die Nutzung bestimmten Mustern folgt, zum Beispiel gibt es Stationen, die dem "Touristen-Muster" folgen, andere dem "Pendler-Muster". Daraus kann man den Personalaufwand etc. berechnen. Sharing Mobility ist ein Zukunftsthema und wird uns auch weiter beschäftigen.
uni:view: Ein weiteres Zukunftsthema, zu dem Sie forschen, sind innovative Belieferungskonzepte – zum Beispiel die Hauszustellung von Lebensmitteln. Dieses Thema ist in der Pandemie ja sehr aktuell geworden.
Ehmke: Auf jeden Fall! Es gab bereits Anfang der Nullerjahre einen kleinen Boom in diesem Bereich, die meisten Start-ups sind aber rasch gescheitert. Das Problem ist, dass die Gewinnmargen bei Lebensmitteln gering sind, die Logistik der Hauszustellung aber gleichzeitig sehr kompliziert ist, weil die Produkte verderblich sind und daher eine zeitfensterbasierte Zustellung brauchen. Sprich: Sie müssen auf jeden Fall zuhause sein und die Lieferung entgegennehmen. Für die Logistik ist das ein Graus – sie müssen den Lieferzeitraum immer individuell abstimmen, um Fehlversuche zu vermeiden, und es besteht eine hohe Erwartungshaltung der Kund*innen bei geringen Gewinnmargen.
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uni:view: Wie könnte man das System verbessern?
Ehmke: Wir haben versucht, das System anhand bestehender Buchungsdaten effizienter zu machen. Dazu wurden verfremdete Buchungsdaten eines großen deutschen Lieferdienstes analysiert und daraus Ideen entwickelt. Zum Beispiel könnte man ausgewählten Kund*innen anbieten, dass die Lieferung billiger wird, wenn sie ein langes Liefer-Zeitfenster wählen. Wenn sie nur innerhalb einer kurzen Zeitspanne beliefert werden wollen, kostet das mehr. Außerdem könnte die Lieferung billiger werden, wenn mehrere Menschen in einer Straße bestellen.
Wir haben Mechanismen entwickelt, um effizientere Routen zu erstellen. Mit einem optimierten System kann man auch die Zahl der belieferbaren Kund*innen steigern – dass der Bedarf besteht, hat nicht zuletzt der Lockdown im Frühling gezeigt. Die Modelle, die wir hier entwickelt haben, wurden international wahrgenommen, es gab sogar einen Paketdienst, der eine Doktorandin direkt einstellen wollte.
uni:view: Hat die Covid-19-Pandemie Ihre Forschung schwieriger gemacht? Unser Verhalten ist ja plötzlich ganz anders.
Ehmke: Ich arbeite mit Big-Data-Methoden – diese funktionieren nur, wenn wir in der Vergangenheit Daten finden, die uns bei Planungsproblemen in der Zukunft helfen. Pandemien passieren zum Glück sehr selten. Als Forscher*innen schauen wir uns Systeme jedenfalls generisch an: Bis 2019 haben wir Einkaufstypen, die viel zuhause sind, vielleicht als "Student*in" klassifiziert. 2020 gibt es dank Homeoffice viel mehr Menschen, die untertags zuhause sind. Dementsprechend müssen wir den Anteil des Typs "Student*in" in den Modellen nach oben schrauben. Es ist der Vorteil der Forschung, dass wir künstliche Verhaltensweisen "in der Schublade haben".
Wir alle mussten in der Pandemie viel Neues lernen, dasselbe gilt für die Anwendungsgebiete von Big-Data-Methoden. Da sie generisch sind, bleiben die Forschungsmethoden gültig, die Daten müssen jedoch ausgetauscht und neu analysiert werden. Einsichten aus Big Data können wir nur erzeugen, wenn wir tatsächlich aktuelle Daten zur Verfügung haben!
uni:view: Sie beschäftigen sich auch mit der Optimierung von Reiseketten. Sprich: Welchen Bus muss ich nehmen, um Zug X zu erreichen und dann Flugzeug Y zu besteigen. Wie geht das?
Ehmke: Busunternehmen, Fluglinien und Co. speichern sogenannte Pünktlichkeitsdaten. Wir stellen die Frage: Wieviel zusätzliche Zeit ist Ihnen Pünktlichkeit wert? Dementsprechend werden Linien und Anschlüsse empfohlen, von denen man weiß, dass sie relativ sicher planmäßig ankommen. Das Ziel wäre zum Beispiel, dass in Mobilität-Apps eine Warnfarbe aufscheint, die mir sagt, wie wahrscheinlich es ist, dass ich alle Anschlüsse schaffe, wenn ich eine bestimmte Reiseroute wähle. Im Grunde ist das ein anspruchsvolles "Ressource Constraint Shortest Path"-Problem. Die Ressource ist Ihre Zeit. Das ist mathematisch anspruchsvoll, aber lösbar und hoffentlich auch bald für Reisende verfügbar.
Die Universität Wien kooperiert in der Forschung mit Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Ihre Lehre bereitet jährlich rund 10.000 Absolvent*innen auf ihre Berufslaufbahn vor und regt sie zu kritischem Denken und selbstbestimmtem Handeln an. Mit dem Themenschwerpunkt "Wirkt. Seit 1365." zeigen wir Ihnen in verschiedenen Beiträgen, was die Universität Wien für unsere Gesellschaft leistet.
uni:view: Worauf konzentrieren Sie sich derzeit in der Lehre?
Ehmke: Sehr spannend ist meine Lehrveranstaltung "Doing Data Science", in der Studierende aus den neuen Masterstudien Digital Humanities, Business Analytics und Data Science fächerübergreifend zusammenarbeiten. Natürlich ist das hybride Studieren eine Herausforderung, aber mir macht das auch Spaß. An der Pandemie kommt man nirgends vorbei, aber ich bin glücklich, sie in Wien verbringen zu dürfen.
Vielen Dank für das Gespräch! (bw)
Jan Fabian Ehmke ist seit April Professor für Business Analytics am Institut für Business Decisions and Analytics der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Seine Forschungsinteressen liegen anwendungsorientiert – von einer datengetriebenen Perspektive ausgehend – an der Schnittstelle von Betriebswirtschaftslehre, Wirtschaftsinformatik und Operations Research. Die methodischen Schwerpunkte sind "Predictive Analytics" und "Prescriptive Analytics".