Leben aus dem Labor

In der synthetischen Biologie werden nicht nur genetisch modifizierte Organismen erzeugt, sondern gänzlich künstliche biologische Systeme und Organismen. Mit ethischen Fragen rund um dieses Thema beschäftigt sich Ulrich Körtner von der Universität Wien in seinem Gastbeitrag zur Semesterfrage.

Auf kaum einem Gebiet wird über Ethik und Moral derzeit so kontrovers diskutiert wie im Bereich der Biowissenschaften. Die Debatte über ihre Chancen und Grenzen hat die Diskussion über die friedliche Nutzung der Atomenergie abgelöst. An die Stelle der Physik ist die Biologie als neue Leitwissenschaft getreten. Das verdankt sie einerseits der Entwicklung der Molekularbiologie, andererseits ihrer Kombination mit der Informatik, ohne welche die Auswertung der genetischen Daten und ihre technische Nutzung gar nicht möglich wäre. So hat sich neben Genetik, Molekularbiologie und Biochemie die Bioinformatik als neue Anwendungswissenschaft etabliert. Die "Life Sciences" sind der wissenschaftlich-ökonomische Komplex der Zukunft.

Gen-Scheren: neueste Hoffnung der Biomedizin

Technisches Denken, und hier wiederum vor allem die Biotechnologie, bestimmt auch den medizinischen Fortschritt. Lebensrettung, Heilung, Lebenserhaltung und Lebensverlängerung werden heutzutage vornehmlich als technische Probleme verstanden. Der Mediziner mutiert zum Anthropotechniker. Die Gentechnik verheißt auch auf medizinischem Gebiet einen gewaltigen Schritt vorwärts, nicht nur in der Entwicklung und Herstellung neuer Medikamente und bei der Entwicklung neuer Therapieverfahren, sondern auch auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin. Genetic Imprinting, CrispCas 9 und TALENs heißen die neueste Hoffnung der Biomedizin: Gen-Scheren, mit deren Hilfe noch viel präzisere Eingriffe als bislang in das Erbgut möglich werden sollen, z.B. zu therapeutischen Zwecken.

Neue Möglichkeiten das Leben zu verändern

Eine neue Stufe der Technisierung von Lebenswissenschaften und Medizin wird mit den "Converging Technologies" erreicht. Es handelt sich hierbei um den kombinierten Einsatz von Nano-, Bio-, Informations- und Kognitionswissenschaften und -technologien, für die das Kürzel NBIC steht. Converging Technologies erlauben völlig neuartige Kombinationen von biologischem und nichtbiologischem Material.

Durch Converging Technologies werden die Grenzen zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen Gehirn und Computer, zwischen organischen Kohlestoff- und anorganischen Siliziumverbindungen fließend. So entstehen neue Möglichkeiten, das Leben von Mensch und Tier durch menschliche Eingriffe zu verändern. Betroffen sind nicht nur Anfang und Ende des Lebens, sondern der gesamte Lebensverlauf.

Wird das Leben neu erfunden?

Wenn man den Vorreitern der Synthetischen Biologie glaube darf, sind wir auf dem Sprung dazu. Das ist jedoch maßlos übertrieben. Abgesehen davon, dass völlig neu konstruierte künstliche Organismen die bisher in der Natur vorkommenden Formen von Leben als Vorbild nehmen müssten, um mit dem Begriff Leben tituliert werden zu können, besteht bei den bisher bekannt gewordenen Experimenten eine "organische Kontinuität" (Rehmann-Sutter).

Viele der jetzt diskutierten ethischen Fragen und Probleme der Technikfolgenabschätzung sind nicht neu. Wir kennen sie aus der Gentechnikdebatte der 1980er und 1990er Jahre. Die nun mögliche Eingriffstiefe in das Erbgut verleiht der Diskussion aber eine neue Dimension. Mit Hilfe der Gen-Schere Crispr-Cas9 lassen sich möglicherweise Keimbahnzellen so verändern, dass Erbkrankheiten nicht weiter verbreitet werden. Die Hoffnung, bestimmte Erkrankungen auf gentechnischem Wege ganz auszurotten, bekommt durch das Genetic Imprinting neue Nahrung. Allerdings sind die möglichen Neben- und Folgewirkungen einer Veränderung des menschlichen Erbgutes derzeit noch kaum abschätzbar.

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Sommersemester 2017 lautet "Gesundheit aus dem Labor – was ist möglich?". Zur Semesterfrage

Manche ExpertInnen halten unbeabsichtigte Mutationen für vorstellbar. Kritiker des Genetic Imprinting argwöhnen, die neue Methode sei ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Designer-Menschen. Die genetischen Veränderungen werden auf die kommenden Generationen übertragen. Auch werden negative Auswirkungen auf das Ökosystem und die Artenvielfalt befürchtet. Die Frage stellt sich, wie die Gesellschaft insgesamt in die komplexe biopolitische und bioethische Debatte eingebunden werden kann. Es geht dabei nicht nur um die gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, die es hat, wenn das Leben immer mehr als technisches Produkt statt als Gabe verstanden wird, und auch nicht nur um Fragen der Menschenwürde, sondern auch um Gesichtspunkte des Tierschutzes, von Tierethik und Tierrechten. Ethik darf dabei nicht zum Feigenblatt der Forschungspolitik verkommen.

Konstruierte Organismen

Das Neue an der synthetischen Biologie gegenüber der bisherigen Gentechnik besteht darin, dass nun nicht mehr nur genetisch modifizierte oder klonierte Organismen erzeugt werden, sondern künstliche biologische Systeme und Organismen, die nach Art einer Maschine konstruiert und interpretiert werden. Das verbindet die synthetische Biologie mit den Converging Technologies. Die Diskussion darüber, ob man diese Organismen nach dem Vorbild der Gentechnik regulieren oder als eine eigene Kategorie von Leben behandeln und rechtlich erfassen soll, ist noch nicht abgeschlossen.

Aus ethischer Sicht geht es in der Debatte nicht nur und nicht einmal in erster Linie um Einzelfragen der Risikoforschung, sondern vor allem um die Frage, welche Rückwirkungen die synthetische Biologie auf unser Verständnis von Leben überhaupt hat. Sie leistet jedenfalls einer technomorphen Auffassung von Leben und einem ganz und gar technischen Umgang mit ihm Vorschub, weil die Erfolge der synthetischen Biologie die Annahme zu stützen scheinen, "dass Leben als dynamischer Ordnungszustand der Materie beschrieben werden kann und für die Funktion von Leben keine weiteren, nicht-materiellen Ingredienzen erforderlich sind" (Christoph Rehmann-Sutter).

Die modernen Naturwissenschaften folgen dem von Gianbattista Vico (1668-1744) aufgestellten Grundsatz: "verum et factum convertuntur." Der neuzeitliche Verstand lässt nur gelten, was er selbst rekonstruieren kann. In Wahrheit haben wir das Leben jedoch noch keineswegs damit verstanden, dass wir einen Organismus technisch manipulieren oder nachbauen können. So scheint sich die moderne Biologie von einer Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben immer weiter zu entfernen. Deshalb ist daran zu erinnern, dass die eigentliche Lebenswissenschaft in der Antike die Ethik war – nämlich die Lehre von der menschlichen Lebensführung, die auch den Umgang mit der Natur einschließt. So stehen wir vor der Herausforderung, ein umfassendes Verständnis von Lebenswissenschaft zu entwickeln, das die Kulturen der Geistes- und der Naturwissenschaften neu miteinander ins Gespräch bringt.

Ulrich H.J. Körtner ist Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin und am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Universität Wien, tätig.