Kastalia: "Für Gleichstellung haben wir noch viel zu tun"

Kastalia im Arkadenhof der Universität Wien

Die Nymphe Kastalia ist als Statue im Arkadenhof der Universität Wien verewigt und weiß als Zeitzeugin der letzten hundert Jahre so einiges zu berichten. Im Interview räumt sie mit einem Mythos auf: Es mag zwar viel passiert sein, aber von Gleichstellung kann noch immer keine Rede sein.

Kastalia, vielen Dank, dass Sie sich für das Gespräch bereit erklärt haben.
Kastalia:
Hin und wieder müssen wir den Sterblichen unter die Arme greifen, das ist schon in Ordnung.

Sie konnten die Dinge an der Universität Wien lange beobachten. Im historischen Vergleich drängt sich die Frage auf: Sind Frauen nicht inzwischen gleichberechtigt?
Kastalia: Da sind wir schon mitten im Thema Mythen. Erstens: Gleichberechtigung ist nicht Gleichstellung. Im Gesetz sind Frauen in vielen Dingen gleichberechtigt mit Männern. Aber auch hier gibt es noch Lücken – abgesehen davon, dass schon im antiken Griechenland klar war, dass es auch Menschen gibt, die weder Männer noch Frauen sind. Zweitens: Nur, weil etwas im Gesetz steht, heißt das noch nicht, dass es auch so gelebt wird. Insbesondere in Bezug auf das Thema Gleichstellung sind Gesetze oft zu grobe Werkzeuge, um die spezifischen Probleme gut lösen zu können. Wir haben aus meiner Sicht die Gleichberechtigung nicht erreicht, geschweige denn Gleichstellung.

Die Nymphe Kastalia ist auf der Flucht vor der sexuellen Belästigung des Gottes Apollo in eine Quelle gestürzt, die danach sprichwörtlich zur Inspirationsquelle für vor allem männliche Dichter wurde. Seit hundert Jahren ist sie als Statue im Arkadenhof der Universität Wien zur Ruhe gekommen. 2009 hat sie sich angesichts der fehlenden Repräsentation von Wissenschafterinnen im Arkadenhof das letzte Mal zu Wort gemeldet, um deutlich zu machen, dass sie genug hat. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Gleichstellung und Diversität ist es gelungen, sie für eine Interviewreihe zum Thema Mythen der Gleichstellung zu gewinnen.

Werfen wir einen Blick in den Bildungsbereich: In vielen Studiengängen erleben wir, dass mehr Frauen als Männer vertreten sind …
Kastalia: Das stimmt, wenn ich mir die erwartungsvollen Erstsemestrigen jedes Jahr im Arkadenhof ansehe, dann sind deutlich mehr Frauen als Männer dabei. Aber je weiter die Karrieren voranschreiten, desto weniger Frauen bleiben übrig. Ich sehe hier zwei Drittel weibliche Studierende, aber nur ein Drittel Professorinnen. Das hat viel damit zu tun, welches Bild wir von Männern und Frauen haben. Buben sind in unseren Köpfen wild und ziehen ihr eigenes Ding durch, für die Schule schwierig. Mädchen sehen wir als brav und fleißig, ideal für die Schule. Wenn sie dann älter werden, dreht sich der Spieß um: Wilde Männer sind geniale Innovatoren und die fleißigen Frauen sind eh ganz nett. Aber hey, immerhin dürfen Frauen inzwischen zur Schule gehen und studieren! Tatsächlich ist es schön zu sehen, dass in den letzten Jahren viele Professorinnen dazugekommen sind, auch wenn die Verhältnisse noch nicht ausgewogen sind.

Insgesamt höre ich aber eine gewisse Ungeduld heraus, oder?
Kastalia: Ich schau mir das jetzt schon seit langer Zeit an und ich sehe das ehrliche Bemühen vieler Menschen, gerecht zu sein. Aber es dauert alles ewig. Da steckt viel in den Strukturen, zum Beispiel werden technische Jobs oft nur Vollzeit ausgeschrieben und sind damit für Männer attraktiver. Assistenzstellen sind dafür Teilzeit und für Frauen interessanter, weil sie weiterhin die meiste private Betreuungsarbeit machen. Wenn man das angehen will, fühlen sich viele angegriffen, weil sie nicht diskriminieren wollen. Das Wollen hat nur leider nicht immer etwas mit dem Ergebnis zu tun. Da spielt der Gender Bias eine große Rolle – eine Voreingenommenheit gegenüber Personen aufgrund ihres Geschlechtes, die bewusst oder unbewusst sein kann und auch in institutionellen Strukturen verankert ist. 

Eine vielleicht etwas provokante Frage: Ist Gleichstellung in Zeiten von Klimakatastrophe und Coronavirus nicht ein Luxusproblem?
Kastalia: Nein und zwar aus zwei Gründen: Einerseits ist Gleichstellung ein existenzielles Thema. Es geht um Lebensgrundlagen wie ökonomische Absicherung und Gesundheit. Frauen werden beispielsweise immer noch schlechter bezahlt als Männer – in Österreich im Schnitt etwa ein Fünftel weniger. Das führt zu einem erhöhten Armutsrisiko von Frauen. Oder: Herzinfarkte werden bei Frauen seltener erkannt und sind deswegen tödlicher, weil sie anders aussehen als bei Männern.

Der Gender Pay Gap (GPG) ist die Gehaltsdifferenz zwischen Männern und Frauen. Auch bereinigt um Faktoren wie Teilzeitarbeit besteht diese Differenz im durchschnittlichen Gehalt. In Österreich lag der GPG 2018 für den Bruttostundenlohn bei 19,6 Prozent (Statistik Austria). Bei den kollektivvertraglichen Professuren an der Universität Wien lag der GPG 2019 bei neun Prozent (vgl. Leistungsbericht der Universität Wien).

Andererseits stecken auch im Klimawandel oder im Coronavirus Geschlechterfaktoren. Gerade bei Corona haben wir gesehen, dass Schlüsselkräfte, welche die gesellschaftliche Grundversorgung erhalten, meist weiblich sind – Pflegekräfte, Supermarktmitarbeiterinnen, Sozialarbeiterinnen. Das sind noch dazu vergleichsweise schlecht bezahlte Berufe. Zusätzlich waren es vor allem Frauen, die die Kinderbetreuung aufgefangen haben, was teilweise zu einer veralteten Rollenverteilung zurückgeführt hat. Und die häusliche Gewalt, die vor allem von Männern gegen Frauen ausgeht, hat während der sozialen Distanzierung zugenommen. Klingt für mich nicht nach Luxusproblemen.

Also ist es ein Mythos, dass wir uns nicht mehr um Gleichstellung kümmern müssen?

Kastalia:
Als Mythenexpertin kann ich nur sagen: ja! Auch außerhalb der Philologien halten sich Mythen. Für Gleichstellung haben wir noch viel zu tun.

Danke für das Interview!
(red)

Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Gleichstellung und Diversität stellen wir vor: Gender Studies
Seit 2006 gibt es den Masterstudiengang Gender Studies an der Universität Wien. Er thematisiert u.a. den historischen Wandel von Frauen- und Männerbildern, die mediale (Re-)Präsentation von Geschlecht, die Herstellung von Geschlechterdifferenz, Mehrfachdiskriminierung oder lesbische, schwule, bisexuelle, trans, inter* und nicht-binäre Perspektiven. Seit diesem Jahr hat Sabine Grenz die Tenure Track-Professur für Gender Studies an den Fakultäten Philosophie, Bildungswissenschaft und Sozialwissenschaften inne. Für Human of #univie Carmen geht es in ihrem Studium vor allem darum, "alltägliche Selbstverständlichkeiten und angebliche Natürlichkeiten" kritisch zu hinterfragen. Mehr im Beitrag auf dem univie Blog