Leben inszenieren
| 25. November 2019Mit dem neuen Forschungsverbund "Geschichte und Theorie der Biographie" unter der Leitung des Germanisten Stefan Krammer wird die Biographieforschung an der Universität Wien institutionell verankert. Wichtig ist Krammer ein starker inter- und transdisziplinärer Ansatz.
Ob in Buchform oder im Internet, als Fremd- oder Selbstdarstellung: Biographien – oder einfacher ausgedrückt: Lebensgeschichten – wohnt eine spezielle Faszination inne; am Buchmarkt dominieren sie neben Krimis die Bestsellerlisten. "Biographien geben Einblicke in fremde und oftmals sehr private Lebenswelten", erklärt Stefan Krammer, der Leiter des neuen Forschungsverbunds: "Die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatleben ist dabei oft verschwimmend. Gerade historische Lebensgeschichten helfen dabei, bestimmte Zeitepochen besser zu verstehen."
Es ist der "jüngste" Forschungsverbund an der Uni Wien, "Geschichte und Theorie der Biographie", aber er blickt bereits auf eine rund 15-jährige Geschichte zurück – ist er doch aus dem Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie entstanden, das im Frühjahr 2005 gegründet wurde. "Der Forschungsverbund gibt uns jetzt die Möglichkeit, mit der Biographieforschung noch stärker in die Uni hineinzuwirken", freut sich Germanist Krammer.
Festvortrag im Rahmen der Inauguration des Forschungsverbundes "Geschichte und Theorie der Biographie":
Charlotte Woodford, Director of Studies in Modern Languages am Selwyn College der University of Cambridge, spricht in ihrem Vortrag "Taboo? Prohibition and Desire in Life-Writing and Stories by Lou Andreas-Salomé" über kulturelle Praktiken von Tabubrüchen Lou Andreas-Salomés.
Montag, 2. Dezember 2019, 18 Uhr, Hauptgebäude der Universität Wien, Fachbereichsbibliothek für Germanistik, Universitätsring 1, Stiege 7, 2. Stock 1010 Wien. Nähere Informationen
Ein Querschnitt der Fächer
Der Forschungsverbund ist an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt, aber auch Disziplinen anderer Fakultäten, wie etwa Geschichte, Soziologie, Bildungswissenschaft, Politikwissenschaft oder Psychologie, sind Teil des Netzwerkes. "Das zentrale Element wird auch weiterhin wie beim Ludwig Boltzmann Institut auf der Theorie der Biographie liegen", betont Krammer: "Wir wollen dabei gleichzeitig die enorme Fächervielfalt an der Uni Wien nutzen sowie die vormals stark philologische Ausrichtung breiter streuen."
So steht auch die viel zitierte Third Mission ganz oben auf der Agenda. Das ist dem Didaktiker Krammer ein besonderes Anliegen: "Ich möchte Biographien als Unterrichtswerkzeuge in die Schulen bringen. Sie eignen sich sehr gut dazu, Lehrinhalte zu vermitteln, seien es historische oder politische – oder durchaus auch naturwissenschaftliche, da viele berühmte Forschungspersönlichkeiten spannende Lebensgeschichten hatten bzw. haben."
Der Forschungsverbund "Geschichte und Theorie der Biographie" wurde im Sommer 2019 gegründet und ist eine Weiterführung des international renommierten Ludwig-Boltzmann-Instituts für "Geschichte und Theorie der Biographie". Ziel ist die Stärkung der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit rund um die Biographieforschung.
Treffpunkt Geschichte
Beim Stichwort "Biographie" denkt man oft an die Geschichte historischer Persönlichkeiten wie Maria Theresia oder Napoleon, aber auch an Menschen, die unsere Zeit wesentlich mitgeprägt haben, zum Beispiel Steve Jobs oder Margaret Thatcher. Weniger bekannt ist, dass auch das Internet, speziell Social Media Kanäle, im Fokus der Biographieforschung stehen. Einer der Forschungsschwerpunkte von Krammer ist neben Männlichkeitsforschung auch Identitätsforschung.
Dazu arbeitet Krammer auch in der interdisziplinären Forschungsplattform #YouthMediaLife. "Hier interessiert es uns, wie sich Jugendliche im Internet und speziell auf Social Media Plattformen bewegen und vor allem präsentieren." Die Verbindung zur Theorie der Biographie liegt auf der Hand, da sich die beteiligten ForscherInnen – aus vier Fakultäten und acht Instituten – damit beschäftigen, wie Jugendliche ihr Leben entwerfen, wie sie es inszenieren und wie sie sich selbst darstellen.
Lesen Sie mehr über die interdisziplinäre Forschungsplattform #YouthMediaLife im uni:view-Artikel "Identitätssuche zwischen Snapchat und Harry Potter".
Herausforderung Lebenswerk
Aktuell laufen am Forschungsverbund Biografie fünf konkrete Projekte, zum Beispiel "Biographie und politische Kultur in Österreich zwischen 1848 und 1938" oder "Barbara Frischmuth – Literar-biographische Erkundungen". "Das Projekt meiner Kollegin Anna Babka über Barbara Frischmuth ist insofern spannend, da es sich mit der Lebensgeschichte und dem Lebenswerk einer noch lebenden Person beschäftigt. Das ist immer eine besondere Herausforderung", erklärt der Germanist.
Viele Wege zur Lebensgeschichte
Der "Output" in der Biographieforschung ist nicht unbedingt immer ein Buch, so blickt das Ludwig Boltzmann Institut neben 28 Publikationen auch auf 47 Vorträge, 100 Podiumsdiskussionen, 80 Lehrveranstaltungen, 13 Symposien und drei Ausstellungen zurück. Diese breit gefächerte Herangehensweise möchte auch der Forschungsverbund beibehalten. "Ich sehe meine Aufgabe darin, den Verbund zu managen und vor allem darin, Biographie-ForscherInnen zusammenbringen", sagt der Leiter Stefan Krammer: "Es gibt an der Uni Wien wirklich tolle ExpertInnen zum Thema und unser Forschungsverbund freut sich über viele teilnehmende WissenschafterInnen. Das ist durchaus als Einladung zu verstehen." (td)
Stefan Krammer hat seit 2015 Professur für Neuere deutsche Literatur und ihre Didaktik am Institut für Germanistik und am Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität Wien inne. Seit Frühjahr 2019 leitet er den Forschungsverbund "Geschichte und Theorie der Biographie". (© Barbara Mair)