Junge Nationen: 100 Jahre Unabhängigkeit

Die Schwesternnationen Finnland und Estland erklärten sich vor 100 Jahren unabhängig. Dieses Jubiläum feiert auch die Finno-Ugristik der Universität Wien mit einer Festveranstaltung. Im Interview mit uni:view spricht die Mitorganisatorin Johanna Laakso über die Hintergründe der Nationswerdung.

uni:view: Finnland, Estland und Österreich haben eine große Gemeinsamkeit. Alle drei Länder feiern heuer 100 Jahre Demokratie. Im Falle von Finnland und Estland war es kein Regimewechsel, sondern eine Loslösung von der russischen Herrschaft. Doch gehen wir vorerst ein Stück zurück. Wo liegen die finnischen Wurzeln?
Johanna Laakso:
Die sprachlichen Vorfahren der Finnen und Esten haben sich vor einigen Jahrtausenden von der Waldzone im heutigen Russland bis zum östlichen Ostseeraum verbreitet. Dort wurde eine Vielzahl an Dialekten gesprochen, aus denen sich im Rahmen der Staatenbildung die Hochsprachen Finnisch und Estnisch – beide sind miteinander ähnlich verwandt wie Deutsch und Niederländisch – entwickelt haben. Das heutige Finnland entstand aus dem Gebiet, das von Schweden verwaltet wurde. Die schwedische Herrschaft und die schwedischen Einflüsse im Laufe von rund 600 Jahren machen Finnland zu dem, was es heute ist.

uni:view: 1809 ist ein markantes Jahr für Finnland – wenn auch nicht das Jahr der Unabhängigkeit …
Laakso: Genau. In diesem Jahr wird der letzte große Krieg zwischen Schweden und Russland geführt, den Schweden verliert, und woraufhin Finnland an Russland angeschlossen wird. Die Nationswerdung beginnt mit 1809 – in diesem Jahr wird Finnland zu einem autonomen Großfürstentum, d.h. es bekommt zum ersten Mal in der Geschichte eine Sonderstellung in Form einer staatsähnlichen Konstellation. Die russische Einflussnahme hält sich in Grenzen, die alten schwedischsprachigen Verwaltungs- und Bildungsinstitutionen bleiben erhalten, die Amtssprache bleibt Schwedisch, später kommt Finnisch dazu. Dank der Autonomie und der nordischen Traditionen entwickelt sich in dieser Zeit ein eigenständiges Nationalbewusstsein.

uni:view: Wie kam es dann zur tatsächlichen Nationswerdung?

Laakso:
Als das russische Imperium gegen Ende des Ersten Weltkrieges zerfällt, erklärt Finnland im Dezember 1917 die Unabhängigkeit und die Bolschewiken lassen Finnland und auch die baltischen Länder vorerst gehen, damit sie sich auf Russland konzentrieren können. Darauf folgt auch in Finnland ein blutiger Bürgerkrieg zwischen den Roten und den Weißen. Die Weißen entscheiden den Bürgerkrieg für sich und es folgen blutige Vergeltungsmaßnahmen – das sind noch heute große nationale Traumata. Auch an diese dunkle Zeit gedenkt Finnland heuer. Mit dem Sieg der Weißen wird Finnland erstmals unabhängig und als republikanische Staatsform gegründet. Damit beginnt auch in Finnland die Tradition der nordischen Demokratie.

Veranstaltungstipp "Sata vuotta – Sada aastat"
100jährige Unabhängigkeit der Schwesternationen Finnland und Estland
Donnerstag, 25. Jänner 2018 um 18 Uhr
Aula am Campus, Hof 1
Spitalgasse 2-4, 1090 Wien
Nähere Informationen

uni:view: Estland gilt als die Schwesternnation Finnlands und feiert heuer ebenso 100 Jahre Unabhängigkeit. Doch der Weg dorthin ist im Falle Estlands ein anderer ...
Laakso: Ja, das ist eine ganz andere Geschichte. Im 13. Jahrhundert wurde Estland ursprünglich von deutschen Orden kolonialisiert und so gab es bis zum Erster Weltkrieg in den baltischen Ländern eine deutschsprachige Oberschicht. Als der Ordensstaat im 15.-16. Jahrhundert zerfällt, gehört Estland kurzzeitig zu Schweden, es folgt die Eroberung durch Peter den Großen und die Eingliederung in Russland. Im Gegensatz zu Finnland haben die baltischen Länder keinen Sonderstatus, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte die Zentralmacht in St. Petersburg die russische Sprache ein.

uni:view: Wie schaffte es Estland, sich zu emanzipieren?
Laakso: Die estnische nationale Emanzipation beginnt ebenfalls im 19. Jahrhundert, aber politisch sind die Umstände viel schwieriger als in Finnland. Mit dem Zerfall des russischen Imperiums wird auch in Estland die Unabhängigkeit proklamiert und auch dort mischen sich die Deutschen ein, aber anders. Für die Finnen sind die Deutschen Freunde und Unterstützer und für die Esten Kolonialherren. Das ist eine dramatische Geschichte, die dann doch glücklich ausgeht. Estland kann sich zwischen den beiden Weltkriegen friedlich entwickeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgt die Zeit der Sowjetisierung, die erst 1989 ihr Ende findet, als Estland die sowjetische Okkupation für beendet erklärt; die alte Unabhängigkeit wird offiziell wiederhergestellt.

uni:view: Wie definieren Sie das nationale Selbstverständnis von Finnland und Estland?
Laakso: Beides sind europäische Nationen, die eine relativ späte Geschichte der Nationswerdung hinter sich haben. Dabei spielte die Sprache eine sehr wichtige Rolle. Bis heute hat das Bildungssystem, die Literatur und die Presse einen sehr hohen Stellenwert. Beide Länder sind kleine Nationen und sich dessen bewusst. Daher existiert eine starke Tradition eines nationalen Konsensus im Sinne von "Wir sitzen alle im gleichen Boot und können uns große interne Streitigkeiten nicht leisten."

uni:view: Auch die Wiener Finno-Ugristik feiert am 25. Jänner 100 Jahre Unabhängigkeit der Schwesternnationen Finnland und Estland. Was ist Ihnen dabei als Mitorganisatorin wichtig?
Laakso: Wir sehen uns hier ganz stark in einer Vermittlerrolle – als einziges Universitätsinstitut Österreichs, das Finnisch und Estnisch lehrt und erforscht. Als Universitätsinstitut finde ich es dabei wichtig, dass wir eine kritische Distanz halten – natürlich feiern wir gerne mit, aber wir wollen auch zeigen, dass hier an der Universität Wien die Nation und die Sprache kritisch erforscht werden. Aus diesem Blickwinkel heraus haben wir auch die Vortragenden und junge ForscherInnen eingeladen, die eine positive, aber auch kritische Einstellung den Phänomenen der Nationalsprache und nationalen Identität gegenüber haben.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!
(td)