"Jede WM hat eine politische Seite"

Georg Spitaler von der Universität Wien ist nicht nur als Privatmensch, sondern auch als Politikwissenschafter ein leidenschaftlicher Fußball-Fan. Mit uni:view spricht der Experte in Sachen rundes Leder über die politische Seite der WM, negative Medienberichte und brasilianische Titelhoffnungen.

uni:view: Bei der Durchsicht Ihres akademischen Lebenslaufs fällt auf, dass Sie sich in der Vergangenheit immer wieder wissenschaftlich mit dem Thema Fußball auseinandergesetzt haben. Was bringt einen Politikwissenschafter dazu, sich so ausgiebig mit diesem Themengebiet zu beschäftigen?
Georg Spitaler: Was Politik und Sport betrifft, gibt es zahlreiche sehr interessante Anknüpfungspunkte. Insbesondere Fußball ist aus politikwissenschaftlicher Sicht deshalb so spannend, weil dieser Sport für die kollektiven Entwürfe von Identitäten und Identifikationen eine wichtige Rolle spielt. Die unterschiedlichen Aspekte, die ich in meiner Forschung bislang behandelt habe, reichen von Fragen zum Zusammenhang von Antirassismus, Migration und Fußball über historische Arbeiten – wie etwa zum Fußball im Nationalsozialismus – bis hin zu Untersuchungen zum Verhältnis von Fußball und Geschlecht.

uni:view: Dass sich das Sportliche nicht immer leicht von der Politik trennen lässt, haben auch die letzten Olympischen Winterspiele in Sotschi gezeigt. Inwiefern trifft das auch auf die kommende Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien zu?
Spitaler: Egal ob Olympische Spiele oder Fußball-WM – solche Mega-Events, die weltweit für Aufmerksamkeit sorgen, haben immer auch eine politische Seite. Schon die Entscheidung, wer eine WM austragen darf, ist im Wesentlichen von hoch politischer Natur. Der Weltfußballverband FIFA ist aufgrund mangelnder Transparenz in Zusammenhang mit der eigenen Vergabepolitik in den vergangenen Jahren zunehmend in die Kritik geraten. Dass es in diesem Punkt einigen Verbesserungsbedarf gibt, zeigt auch die gegenwärtige Debatte um die Fußball-WM 2022 in Katar, wo auch von offizieller Seite mittlerweile Fehler eingeräumt werden mussten.

uni:view: Kritische Stimmen haben auch die Vergabe an Brasilien bereits als "Fehler" bezeichnet. Ausschlaggebend hierfür waren vor allem die sozialen Proteste beim Confederations Cup 2013, der für die FIFA gewissermaßen eine Generalprobe für die WM darstellte. Wie beurteilen Sie die Wahl des Veranstaltungslandes?
Spitaler: Die Geschehnisse beim Confed Cup waren sicher Wasser auf die Mühlen vieler Kritiker, die schon zuvor die Frage gestellt hatten, wie es mit der politischen und ökonomischen Nachhaltigkeit der WM in Brasilien aussieht. Dass es dort gravierende soziale Probleme gibt, lässt sich nicht leugnen. So eine Weltmeisterschaft ist aber natürlich auch mit hohem Prestige verbunden. Brasilien hat sich trotz der offensichtlichen Schwierigkeiten im Land bewusst für die Austragung dieser Veranstaltung beworben, weil man dadurch hofft, das eigene Image als moderner aufstrebender Staat zu untermauern. Ich persönlich finde es prinzipiell gut, dass die WM in einem Land stattfindet, in dem Fußball der Nationalsport schlechthin ist – und das nicht nur für seine technisch außergewöhnlichen Spieler bekannt ist, sondern auch für seine besonders leidenschaftlichen Fans.



Das brasilianische Team, genannt Seleção (Deutsch: Auswahl), ist die erfolgreichste Fußball-Nationalmannschaft der Welt. Insgesamt fünfmal konnte sie bislang den WM-Titel holen, das letzte Mal im Jahr 2002. (Foto: flickr.com/zaithyngalter01)



uni:view: Ist es angesichts dieser überaus großen Leidenschaft für alles, was das "runde Leder" betrifft, nicht etwas überraschend, dass man nun derart lautstark gegen die Weltmeisterschaft auftritt?
Spitaler: Aus Sicht der Protestierenden ist es nur allzu gut verständlich, dass sie ein derartiges Großereignis nutzen wollen, um sich öffentlich Gehör für ihre Anliegen zu verschaffen. Immerhin schaut während der WM die ganze Welt nach Brasilien. Ich glaube dennoch, dass viele Menschen von den Protesten überrascht waren. Fußball hat in Brasilien einen derart hohen Stellenwert, dass man sich eine positivere Reaktion erwartet, wenn eine WM ins Land kommt. Die Proteste richten sich aber eigentlich nicht gegen die WM selbst, sondern gegen die enormen Investitionen, die mit dem Großereignis verbunden sind. Wenn man das viele Geld sieht, das ausgegeben werden muss, um die strengen WM-Richtlinien der FIFA einzuhalten, stellt sich schon die Frage, ob das nicht sinnvoller eingesetzt werden könnte – zum Beispiel zur Bekämpfung von Armut und Bildungsnotstand oder der Verbesserung der medizinischen Versorgung und des öffentlichen Transportsystems.

uni:view: Die Investitionen sind tatsächlich enorm. Schon vor der WM hat Brasilien die benötigte Summe mit rund elf Milliarden beziffert, die letzten Endes von den SteuerzahlerInnen aufgebracht werden muss. Lohnt sich dieser enorme Aufwand und was bleibt den BrasilianerInnen nach der WM?
Spitaler: Bei der Prognose von ökonomischen Folgeeffekten muss man vorsichtig sein. Es gibt vor jedem derartigen Großereignis Studien, die hervorheben, wie groß und toll der Gewinn sein wird. Wenn es aber um die konkrete objektive Überprüfung von solchen positiven Auswirkungen geht, fehlen vergleichbare Studien zumeist. Ich sehe das eher als zweischneidiges Schwert, siehe das Beispiel Tourismus: Einerseits werden zwar viele Leute wegen der WM nach Brasilien kommen, andererseits werden aber auch viele eben gerade deswegen heuer nicht dorthin reisen, weil ihnen derzeit alles viel zu teuer ist, die Hotels ausgebucht sind und die Städte und Sehenswürdigkeiten völlig überfüllt sind. Ich persönlich bin skeptisch, ob die WM dem Land wirklich so viel bringt. Und auch wenn irgendein Geldüberschuss bleibt, erhält diesen nur der Verband und nicht die arme Bevölkerung in den Favelas.




Für die Fußball-WM musste Brasilien in großem Stil investieren. Allein der Umbau des berühmten Maracana-Stadions (Bild) in Rio de Janeiro soll rund 425 Millionen Euro verschlungen haben. (Foto: flickr.com/BBM-Explorer)



uni:view:
Die Armenviertel der großen Städte hätten eine finanzielle Zuwendung wohl bitter nötig. Doch anstatt die katastrophalen Lebensverhältnisse in den Favelas nachhaltig zu verbessern, berichten Medien von regelrechten Säuberungsaktionen, mit denen die brasilianischen Behörden für ein schöneres Straßenbild und mehr Sicherheit während der WM sorgen wollen. Alles übertriebene Medien-Hysterie?

Spitaler:
Es ist klar, dass sich die Medien auf negative Meldungen rund um die Fußball-WM – Proteste, Todesfälle auf den Stadien-Baustellen, etc. – stürzen. Es ist natürlich wichtig, auf solche Missstände hinzuweisen. Man sieht das jetzt schon in Bezug auf die WM in Katar, wo von ähnlichen Problemen berichtet wird. Eine entsprechende Medienberichterstattung kann da im Vorfeld durchaus etwas Positives bewirken, etwa ein besseres Arbeitsrecht auf den Baustellen. Diese Säuberungsaktionen waren auch bei der WM in Südafrika 2010 ein heiß diskutiertes Thema. ExpertInnen haben dazu eine eher ambivalente Meinung. Man muss dazu wissen, dass diese Gebiete Zonen sind, aus denen sich der Staat großteils völlig zurückgezogen hat und die von organisierter Kriminalität regiert werden. Es kann also nicht per se schlecht sein, wenn der Staat versucht, wieder einen Zugang zu diesen Regionen zu gewinnen. Das Problem dabei ist aber auch die Art der Vorgehensweise der Sicherheitskräfte. Diese sind oft nur schlecht bezahlt und gehen dementsprechend aggressiv und brutal vor. Im schlimmsten Fall übernehmen dann diese lokalen Polizeitruppen die Herrschaft über die Viertel und tun genau das, was zuvor die kriminellen Organisationen getan haben. Für die betroffene Bevölkerung ändert sich gar nichts.

uni:view:
Angesichts der geplanten Eintrittspreise werden die meisten BrasilianerInnen die WM-Spiele nicht im Stadion verfolgen können. Trübt das nicht die WM-Stimmung im Land?

Spitaler:
Die durchschnittlichen Favela-BewohnerInnen können sich das natürlich nicht leisten. Sport und insbesondere Fußball haben in Brasilien aber einen starken sozialen Charakter: Die Leute treffen sich mit Freunden nicht im Stadion, sondern in privatem Umfeld, stellen einen Fernseher auf, grillen daneben und schauen sich die Spiele gemeinsam an. Man muss also nicht unbedingt für teure Karten ins Stadion gehen, um die WM in vollen Zügen zu erleben.

uni:view: Glauben Sie, dass die Probleme und Proteste gleich wieder vergessen sind, wenn Brasilien bei der WM gut abschneidet?

Spitaler: Das gemeinsame Verfolgen der Spiele kann sicher auch eine gute kurzzeitige Ablenkung von den Alltagsproblemen sein. Was die generelle Stimmung im Land betrifft, wird viel am Sportlichen hängen. Die brasilianischen Fans stellen traditionell immer hohe Erwartungen an ihr Team. Einige sind davon überzeugt, dass die Stimmung schon schlecht wird, wenn sie nicht Weltmeister werden. Viele BrasilianerInnen sagen, es wäre für sie das Schlimmste, im Finale gegen Argentinien zu verlieren, weil man nachher jahrelang nicht mehr ins Nachbarland reisen könne. (ms)

Georg Spitaler zur WM:




Werden Sie persönlich die Fußball-WM verfolgen?

Ja, natürlich.
Wer ist Ihr Favorit?
Brasilien.
Wen würden Sie gerne im Finale sehen?
Brasilien gegen Bosnien. Bosnien deshalb, weil ich es toll finde, dass sie die Qualifikation geschafft haben. Außerdem wäre es sehr schön, diese Partie gemeinsam mit bosnischen FreundInnen in Wien anzuschauen.


Dr. Georg Spitaler ist Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Fakultät für Sozialwissenschaften. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Sport und Politik, Cultural Studies, Politische Kulturgeschichte, Fußballgeschichte und politische Theorie.