Kathrin Sartingen: "In Brasilien ist Fußball Kultur" (Teil 1)

Kathrin Sartingen ist die erste Professorin für Lusitanistik an der Universität Wien. Im Interview erzählt die Brasilien-Expertin über ein Land, das in Bewegung ist und in dem Fußball, Kultur und Alltag untrennbar miteinander verbunden sind.

uni:view: Frau Sartingen, Sie sind Brasilien-Expertin an der Universität Wien, haben viele Jahre in Brasilien gelebt und gearbeitet, haben zahlreiche KollegInnen und Freunde im Land. Woher kommt Ihrer Einschätzung nach diese unglaubliche Begeisterung der BrasilianerInnen für Fußball, die man trotz der weltweiten Popularität dieses Sports dennoch in keinem anderen Land findet?

Kathrin Sartingen: Bei Fußball gerät Brasilien in einen Ausnahmezustand. Es ist ein Massensport, u.a. wegen der vielen Strände, wo permanent gekickt wird. Meiner Meinung nach ist Fußball in Brasilien mit einer sehr großen Körper- und Bewegungskultur in Zusammenhang zu bringen. Und da passt Fußball natürlich hervorragend dazu, er spielt eine wichtige Rolle auf allen Ebenen. Nicht nur auf der sportlichen: Fußball durchdringt Sparten wie Kultur, Literatur, Film, Tanz, Musik, Radio, etc. Gerade Kultur und Fußball lassen sich in Brasilien nicht trennen; Fußball durchdringt sozusagen die Alltagskultur. Ein schönes Beispiel dafür ist, dass ein Schriftsteller und Journalist – und eben kein Fußballer oder Sportler - der Namensgeber des größten Fußballstadions des Landes ist: Mário Filho, der Bruder des berühmten Theaterschriftstellers Nelson Rodrigues und Begründer des Sportjournalismus in Brasilien. Nach ihm ist offiziell das berühmteste Stadion in Brasilien benannt, das Estádio Jornalista Mário Filho (Mário Filho-Stadion) in Rio de Janeiro – besser natürlich bekannt als Maracanã-Stadion.

In Brasilien existiert also eine enge Verflechtung zwischen Fußball, Kultur und sozialem Leben – das lässt sich nicht einfach trennen: Hier kann sich ein Schriftsteller gleichermaßen zur Politik wie zum Fußball äußern. Unsere SchriftstellerInnen würden nicht unbedingt öffentlich so sehr für oder gegen Fußball Position beziehen. Aber in Brasilien gehört das durchaus dazu.

uni:view: Seit dem Confederations Cup 2013 in Brasilien kommt es immer wieder zu sozialen Protesten im ganzen Land. Die Menschen sind wütend über die enormen Ausgaben des Staates für die Fußball-WM, während kein oder wenig Geld für soziale Ausgaben da ist. Können die BrasilianerInnen, die ja wie wir eben gehört haben den Fußball dennoch heiß lieben, die WM überhaupt genießen?


Kathrin Sartingen: In diesem Punkt ist das Land gespalten. Auf der einen Seite sind viele BrasilianerInnen enttäuscht, dass einige Stadien so kurz vor der WM immer noch nicht fertig sind. Das ruft Enttäuschung – nach dem Motto "Wir schaffen es mal wieder nicht" – auf den Plan. Ich bin allerdings sicher, dass sie es trotzdem schaffen werden. Denn das ist das Unglaubliche an Brasilien – man weiß es von Konferenzen, die man einmal dort organisiert hat: Bis zur letzten Minute steht nichts und plötzlich wird es ein Riesenerfolg. Ich bin auch in Bezug auf die Fußball-WM sehr optimistisch und denke, es wird alles klappen.

Dennoch sind viele BrasilianerInnen entsetzt, welche Summen das Land für den Bau der Stadien ausgeben musste, Geld, das nach Meinung vieler besser in Bildung, Sozialleistungen und Infrastrukturverbesserungen hätte investiert werden sollen. Zahlreiche Infrastrukturversprechen, wie etwa der Schnellzug Rio-Sao Paulo-Campinas oder die Modernisierung der Flughäfen sind dahingegen nicht eingehalten worden. Aus diesem Grund wird es sicherlich weiterhin soziale Proteste geben.

Auf der anderen Seite ist Fußball wirklich ein großes Fest in Brasilien, es ist gelebte Kultur, es gehört dazu. Und der Confederations Cup hat ja gezeigt, dass die brasilianische Fußballnationalmannschaft, die Seleção, ganz oben sein kann.

Es gibt viele Perspektiven, um das ganze komplexe Unternehmen Fußball-Weltmeisterschaft richtig in den Blick zu nehmen. Spannend ist es auf jeden Fall, es wird viel passieren, und die Fußballbegeisterung wird alle mitreißen. Es wird ein mit dem Karneval vergleichbares Event werden – zumindest in Städten wie Rio. Und die sozialen Protestbewegungen werden die WM natürlich als Plattform nutzen, um auf die Missstände im Land hinzuweisen – sicherlich zu großen Teilen auch zu Recht.

uni:view: Wieso lassen die Proteste Ihrer Meinung nach nicht nach?

Kathrin Sartingen: Zunächst muss man wissen, dass das Leben in Brasilien in den letzten Jahren massiv teurer geworden ist – selbst für europäische Verhältnisse ist es mittlerweile ein Hochpreisland. Früher habe ich immer meine brasilianischen KollegInnen eingeladen, heute ist es umgekehrt. Das heißt, das Lohnniveau ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Noch stärker war allerdings die Preissteigerung! Dies betrifft vor allem Preise, die die einfache Bevölkerung sofort spürt: Lebensmittel oder Bustickets beispielsweise. Und dagegen lehnt sich die Bevölkerung auf. Zugleich hat die Regierung jetzt vor der WM das Programm "Massiv gegen Aufständische vorgehen" erlassen. Das zieht große Kritik nach sich und die Protestler nutzen natürlich die Fußstapfen der WM, um die nötige Aufmerksamkeit zu erregen. Hinzu kommt, dass sich viele BrasilianerInnen nicht nur auf eine Fußballnation reduziert sehen wollen.

Kathrin Sartingen zur WM:
Werden Sie die Fußball-WM verfolgen?
Dem kann ich gar nicht entgehen, ich habe drei Söhne und einen Mann zu Hause und alle vier sind fußballbegeistert, spielen z.T. selbst. Und ich habe auch viele brasilianische Freunde und KollegInnen – aus der Geschichte komme ich nicht raus.
Wer ist Ihr Favorit?
Natürlich Brasilien. Das ist so.
Wen würden Sie gerne im Finale sehen?
Also als Deutsche – ich bin eigentlich nicht sehr deutsch, aber beim Fußball würde ich schon gerne Brasilien gegen Deutschland sehen. Auf jeden Fall bin ich sicher, dass ein lateinamerikanisches Land im Finale stehen wird. Hoffentlich Brasilien.


uni:view: Sie waren von 1992 bis 1996 als Professorin an der Universidade Estadual de Campinas in São Paulo tätig und haben dann später als Gastprofessorin länger in Rio de Janeiro gearbeitet. Wie haben sie persönlich die Entwicklung von Brasilien der letzten 20 Jahre erlebt und verfolgt?


Kathrin Sartingen: Ich kann die Entwicklung bereits seit 1988 beobachten, als ich das erste Mal länger in Brasilien war. Da war das Land eine sehr junge Demokratie, die Militärdiktatur hatte gerade 1985 geendet. Brasilien war damals im absoluten Umbruch, es war sozial spannungsgeladen und wirtschaftlich völlig konfus. Wir hatten bis zu 50 Prozent Inflation im Monat. Sobald man sein Gehalt bekam, stellte man sich in die zahllosen Schlangen im Geschäft an, um es sofort auszugeben, da am nächsten Tag alles um ein Vielfaches teurer sein würde. Vor den Banken, der Post oder bei staatlichen Behörden bildeten sich regelmäßig lange Schlangen. Also engagierte man sogenannte "Schlangensteher", die man dafür bezahlte, dass sie für einen warteten. Zur Veranschaulichung: So eine Schlange konnte sich schon hunderte Meter lang hin ziehen, da stand man oft einen ganzen Tag an.

Kurz gesagt, nach der Militärdiktatur war Brasilien über einige Jahre hinweg ein Land mit extrem hoher Inflation bis hin zur Hyperinflation. Das änderte sich 1994 mit der Einführung des Real, also der Währung, die bis heute gültig ist. Im selben Jahr wurde auch Fernando Henrique Cardoso zum Präsidenten gewählt. Er hat eine neoliberale Wirtschaftspolitik geführt und das Land stabilisieren können, allerdings auf Kosten zahlreicher sozialer Einschränkungen. 2003 wurde dann Luiz Inácio Lula da Silva gewählt, der diese neoliberale Wirtschaftspolitik – sehr zum Ärger seiner Parteigenossen der Arbeiterpartei – zunächst weiter geführt hat, allerdings nun um soziale Reformen flankiert. Dieses Paket hat meiner Meinung nach gut funktioniert. Das Land ist – bis letztes Jahr – relativ ruhig und stabil geblieben, nicht zuletzt aufgrund der glaubwürdigen Integrationsfigur Lula.

uni:view: Inwieweit hat sich Brasilien unter Lula da Silva, von 2003 bis 2011 Präsident, gewandelt?

Kathrin Sartingen: Lula setzte sehr sinnvolle und dringend notwendige Maßnahmen um: Er hat in Bildung und in die Mittelschicht investiert. Sein ausgerufener Plan hieß "fome zero" (dt.: Null Hunger), mit dem er die riesige Unterschicht durch Familiengeld, Anhebung des Mindestlohns und Zugang zu Krediten zumindest in den Status einer unteren Mittelschicht bringen wollte. Der Plan ist aufgegangen, die Mittelschicht ist dadurch gewachsen.

Insgesamt hat Brasilien unter Lula sehr viel Geld in Bildung, Ausbildung, Erziehung, Alphabetisierung, aber auch Infrastruktur investiert. Dabei ist aber erstens viel Geld "versickert", und zweitens schafft es der Staat nicht, diese gestiegenen Ausgaben alle zu finanzieren. Heute ist die Situation daher umgeschlagen. Meine AkademikerkollegInnen gehen zum Teil mit 50 Jahren in Pension, bei vollen Bezügen, die dazu über den Gehältern von hiesigen HochschullehrerInnen liegen! Das kostet. Und Brasilien kann sich diesen "Luxus" nicht mehr leisten. Also hat man angefangen, Preise zu erhöhen, Kredite teurer zu machen, Infrastrukturprojekte auf Eis zu legen, etc. Und dagegen protestiert die Bevölkerung nun. Die sozialen Konflikte sind erneut aufgebrochen. Die Demokratie ist erwachsener geworden und die Menschen fordern zunehmend ihre Beteiligung am Wohlstand ein. (td)

Lesen Sie mehr über Lusitanistik, deren Stellung in Europa und Kathrin Sartingens persönliche Erfahrungen in Brasilien im zweiten Teil des Interviews mit der Brasilien-Expertin – demnächst im Dossier "Olá Brasil" – auf uni:view.

Univ.-Prof. Dr. Kathrin Sartingen hat seit September 2008 die Professur für Lusitanistik am Institut für Romanistik der Universität Wien inne.