Indigene Völker als "Hüter der Artenvielfalt"

Porträtfotos von René Kuppe und Verónica Yuquilema vom Institut für Rechtsphilosophie, die im Gastbeitrag zur indigene Gemeinschaften durch ihre Lebensweise die Vielfalt des Planeten schützen.

Während die internationale Politik oftmals Interessen des Kapitals verfolgt, schützen die indigenen Gemeinschaften durch ihre Lebensweise die Vielfalt des Planeten, erklären René Kuppe und Verónica Yuquilema vom Institut für Rechtphilosophie im Rahmen der aktuellen Semesterfrage.

"Indigene Völker leben in den meisten der Ökozonen, um deren Erhalt die Umweltschützer so eifrig bedacht sind" – in einem Beitrag der Zeitschrift des Worldwatch Institutes von 2004 bringt der Anthropologe Mac Chapin einen zentralen Aspekt des Themas globale Artenvielfalt auf den Punkt. Jüngere Untersuchungen des WWF ergaben, dass indigene Völker in 95 Prozent der für globalen Umweltschutz kritischen 238 terrestrischen Ökozonen siedeln.

Zusammenhang zwischen hoher Biodiversität und indigener Besiedlung

Das räumliche Zusammenfallen von relativ intakten Ökozonen mit hoher Biodiversität und den (verbleibenden) Territorien indigener Völker ist nicht zufällig. Vielfalt und ökologischer Reichtum dieser Gebiete sind nicht nur die Folge von geringer Bevölkerungsdichte oder scheinbar wenig entwickelten Technologien, sondern hängen mit der Lebensweise dieser Völker zusammen. Die traditionelle spirituelle Beziehung indigener Völker zum Lebensraum, die oftmals gemeinschaftliche Ressourcennutzung sowie die gewohnheitsrechtlichen Formen der Bewirtschaftung von Wäldern, Berggebieten, Gewässern und Wildtieren haben die genetische und ökologische Vielfalt nicht nur bewahrt, sondern ihre Ausbildung an vielen Orten der Erde sogar stimuliert.

Umweltschutz mit Vorreiterfunktion

Die Lakota, Shoshone und andere indigene Gruppen wurden von der US-Army bis 1880 aus dem Gebiet des Yellowstone-Nationalparks vertrieben. Vor der staatlichen Einrichtung des weltweit ersten Nationalparks haben die traditionellen Völker hier wie anderswo Artenvielfalt und ökologisches Gleichgewicht erhalten: durch Respektierung für sie heiliger Wälder, Gewässer und Ländereien einerseits und durch flexible und extensive, auf traditionellem Detailwissen beruhende Bewirtschaftungsmuster andererseits.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts traten Umweltproblem zwar zunehmend ins Bewusstsein der Gesellschaft, und die Einrichtung neuer Schutzgebiete erlebte einen Boom. So stieg die Fläche von offiziell eingerichteten terrestrischen Schutzgebieten zwischen 1951 und 1991 von unter einer Million km² auf ganze neun Millionen km². Aber hierbei setzte die weltweite Umweltpolitik auf das "Yellowstone"-Modell: Arten- und Ökotopschutz wurde als staatliche, upside-down implementierte Schutzgebietspolitik realisiert.

Kolonialismus hinter der Fassade des Umweltschutzes


Verwaltung und Bewirtschaftung der Natur wurden also in Expert*innenhände gelegt und auf naturwissenschaftliche Einsichten gestützt, die "Objektivität" beanspruchten. Das Yellowstone-Modell ist jedoch die Weiterführung des Kolonialismus hinter der Fassade des Umweltschutzes: Die traditionell von indigenen Völkern besiedelten Territorien werden als "Natur pur", als "ursprüngliche Wildnis" betrachtet, die vom Staat einseitig dem "Nationalinteresse" des Biotop- und Artenschutzes unterstellt wird.

Die Lebensweise der dort ansässigen "Wilden" gilt nicht als Basis für legitime Rechte über Land und Ressourcen, im Gegenteil: Ihre Bewirtschaftungsformen werden als rückständig und irrational angesehen und unter anderem als Wilderei kriminalisiert.

Hand in Hand: Natur und kulturelle Vielfalt schützen

Erst in den letzten Jahrzehnten ist hier ein Umschwung festzustellen: 2003 treten erstmals Vertreter*innen indigener Völker gemeinsam bei einem internationalen Umweltgroßevent auf, und zwar beim "World Parks Congress" in Durban, Südafrika, dem internationalen Schutzgebietskongress der wichtigen Umwelt-Dachorganisation "International Union for Conservation of Nature IUCN". Sie fordern die Anerkennung der gewohnheitsmäßigen Rechte an althergebrachten Territorien und Ressourcen, sie bezeichnen zwangsweise Aussiedelung als kulturellen und physischen Völkermord, sie fordern Restitution.

Vor allem aber stellen sie nicht Umwelt- und Artenschutzpolitik insgesamt in Frage, sondern betonen die Kompatibilität des Schutzes von Natur und von kultureller Vielfalt. Ein neues Paradigma von Schutzgebietspolitik wird in den Raum gestellt, das sich auf Rechte der traditionellen Nutzer*innen und Hüter*innen von Biodiversität stützt und indigene Wissenssysteme als gleichwertig mit westlicher Wissenschaft anerkennt.  

Das Modell der Kichwa-Gemeinschaft Sarayaku

Die indigenen Völker des Anden- und Amazonasraumes haben Modelle entwickelt, um eigenständige Erfahrungen und selbstbestimmte rechtliche Institutionen zum nachhaltigen Schutz der Biodiversität in die offizielle Umweltpolitik einzubringen.

Ein Beispiel dafür ist das Modell "Kawsak Sacha", das die durch den Widerstand gegen Ölkonzerne bekannt gewordene Kichwa-Gemeinschaft Sarayaku entwickelt hat. Ziel ihres Modells sei die "(…) auf Nachhaltigkeit beruhende Erhaltung und Bewahrung des territorialen Raumes, der materiellen und spirituellen Beziehungen, die die ursprünglichen Völker mit dem lebenden Regenwald und mit den Wesen, die diesen bewohnen, hergestellt haben. Unser Territorium lebt und wird weiterleben, indem wir dafür sorgen, dass es frei von kommerzieller Ausbeutung bleibt."

In ähnlicher Weise beanspruchen die Kichwa, den Schutz der Páramos (baumlose Hochlandsteppen) durch Technologien zu bewerkstelligen, die auf kommunale Kenntnisse und Formen der Wassernutzung gestützt sind. "Denn hier wird auch auf die reziproke Form von Verantwortung und Subsistenz abgestellt", betont Kichwa-Juristin Verónica Yuquilema, die diese Modelle derzeit am Institut für Rechtsphilosphie erforscht. (Im Bild: Páramo in Ecuador; © Hjvanness/Wikimedia CC BY-SA 3.0)

Die Ansätze machen klar, dass Artenschutz nicht als isoliert-technokratische Aufgabe angesehen werden kann, sondern in komplexer Weise mit der Ausgestaltung des soziokulturellen Lebens jener Menschen verbunden ist, welche zu Recht als Hüter*innen biologischer Vielfalt angesehen werden können.

Umweltpolitik und indigene Rechte in Einklang bringen

In traditionellen Kreisen internationaler Umweltpolitik fanden derartige Ansätze nicht immer offene Ohren: Regierungsvertreter*innen, akademische "Expert*innen" und mächtige internationale Geldgeber*innen halten an einem technokratisch-kolonialen Modell des Artenschutzes fest. Konsultationen werden bestenfalls halbherzig vollzogen, Bewohner*innen von Nationalparks nach wie vor restriktiven bürokratischen "Management"-Systemen unterworfen, während Artenvielfalt touristisch zur Schau gestellt und im fremden Profitinteresse vermarktet wird.

"Der 'westliche' Blick auf die Natur ist von Anthropozentrismus geprägt. Die indigenen Völker halten dem eine holistische Neubewertung entgegen, die einen dekolonisierten Zugang zum Thema Artenschutz ermöglicht." 


In einer spektakulären Entscheidung der Afrikanischen Menschenrechtskommission wurde 2010 die Aussiedlung der nomadischen Enderois aus einem Schutzgebiet in Kenia als rechtswidrig erkannt. Selbst die IUCN hat nach und nach die eigene internationale Richtlinienpolitik modifiziert und empfiehlt das Recht indigener Völker auf volle Zustimmung bei Einrichtung und Verwaltung von Naturschutzgebieten. Am Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien laufen systematische Forschungen zur Frage, wie aktuelle globale Umweltpolitik mit den Rechten der "Hüter*innen der biologischen Vielfalt" in Einklang gebracht und so auch zielführender umgesetzt werden kann.

René Kuppe ist Rechtsanthropologe am Institut für Rechtsphilosophie. Er beschäftigt sich in Lehre und Forschung mit Rechten indigener Völker. Kuppe hat sich mit einer Schrift zum Rechtsschutz indianischer heiliger Stätten in den USA habilitiert. Er arbeitet an einer größeren Studie zur Rolle indigenen Gewohnheitsrechtes zu Schutz und Erhaltung natürlicher Reichtümer.

Verónica Yuquilema Yupangui ist Angehörige der Nationalität Kichwa-Puruwá, Ecuador. Derzeit forscht sie am Institut für Rechtsphilosophie zum Thema Rechtspluralismus und natürliche Ressourcen. In Ecuador hat sie als Rechtsanwältin im Bereich Menschenrechte praktiziert und sich akademisch mit Querverbindungen von staatlicher Justiz, Runa (Kichwa)-Recht und Kichwa-Rechtsphilosophie beschäftigt.