Frauenbewegungen in muslimisch geprägten Ländern
| 10. März 2011Der Umsturz der diktatorischen Regime in Tunesien und Ägypten brachte die dominanten westlichen Bilder über die sogenannte "arabische Welt" ins Wanken. Seit der Kolonialzeit beansprucht der Westen Werte wie Demokratie, Freiheit und Entwicklung für sich, um sich abzugrenzen bzw. politische und wirtschaftliche Interessen zu legitimieren. Dass genau diese Werte nun in den arabischen Ländern lautstark eingefordert werden und in Ägypten wie Tunesien Frauen mit und ohne Kopftuch für mehr Freiheit und Demokratisierung auf die Straße gingen, stellt die "westlichen" Konstruktionen über die "Anderen" in Frage – besonders im Hinblick auf Geschlecht und Geschlechterbeziehungen.
Der dominante westliche Blick auf die "arabischen" und muslimischen Frauen und die Beurteilung der rechtlichen, religiösen und familiären Strukturen nach westlichen Maßstäben führte zur Unsichtbarkeit der vielfältigen Frauenbewegungen und -organisationen in muslimisch geprägten Ländern. Frauen als eigenständige Akteure haben allerdings trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen in diesen Ländern auf vielfältige Weise die Geschichte mitgestaltet und gesellschaftliche und politische Transformationen beeinflusst – sowohl national als auch international.
Herausforderung Globalisierung
In nahezu allen muslimisch geprägten Ländern und Regionen waren seit dem 19. Jahrhundert Frauen und Frauenbewegungen aktiv, die sich mit Unterdrückung und Ungleichheitsverhältnissen auseinandersetzen, geschlechtsspezifische Grenzziehungen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich hinterfragen und politische Forderungen nach Bildung und Partizipation erheben. Auch in den antikolonialen Bewegungen waren Frauen aktiv – ihre Beteiligung an Streiks und Protesten wurde national anerkannt.
Globalisierungsprozesse und die damit eng verknüpfte Islamisierung stellten für die Frauenbewegungen in vielen muslimisch geprägten Ländern neue Herausforderungen dar.
Islamisierung als Alternative zu westlichen Modernitätsvorstellungen
Die kulturelle Bewegung der Islamisierung steht als Rahmen für Identitätskonstruktionen von Nationen oder Gruppen und als Möglichkeit, sich vom Westen abzugrenzen und sich als Alternative zu den von westlichen Gesellschaften ausgehenden unilinearen Entwicklungs- und Modernitätsvorstellungen zu etablieren.
Durch die unterschiedlichen Islamisierungsprozesse rückte das Thema der Geschlechterverhältnisse verstärkt ins Zentrum der etablierten Politik und führte zur Instrumentalisierung von Frauen. Sowohl Regierungen als auch die islamische Oppositionsbewegungen nutzten verstärkt Geschlechterverhältnisse, um sich politisch und gesellschaftlich zu positionieren – international, aber zunehmend auch national.
Muslimische Frauenbewegungen und islamischer Feminismus
Die Politisierung der Geschlechterordnungen im islamischen Diskurs führte zu Differenzierungsprozessen innerhalb der Frauenbewegungen. Neben säkularen, auf internationalen Konventionen beruhenden Frauenbewegungen gibt es ebenfalls muslimische Frauenbewegungen, die globale Diskurse lokalisieren und als kompatibel mit dem Islam präsentieren sowie kulturspezifische Begriffe und Symbole verwenden. Seit den 1990er Jahren tauchen zudem sogenannte islamische Frauenbewegungen und -organisationen auf, die unter dem Begriff "islamischer Feminismus" subsumiert werden.
Mit diesem Begriff werden diejenigen Frauenorganisationen charakterisiert, die islamimmanent Geschlechterverhältnisse transformieren wollen. Dabei wird die Religion in ihrem historischen Kontext begriffen und der Koran neu interpretiert, um zum egalitären und emanzipatorischen Islam zurückzukehren. In diesem Sinne kann der islamische Feminismus als Teil einer "islamischen Reformation" verstanden werden.
Konstruierte Grenzen hinterfragen
Zweifelsfrei sind solche Klassifizierungen von Frauenorganisationen bzw. -bewegungen nicht generalisierbar, sondern müssen im spezifischen Kontext betrachtet werden. Sie zeigen aber, dass es eine Vielzahl von unterschiedlichen Frauenorganisationen in muslimisch geprägten Ländern gibt, die aktiv an einer islamischen und gesellschaftlichen Neustrukturierung der öffentlichen Räume, ebenso wie an der Definition des Politischen beteiligt sind. Dabei spielen in unterschiedlicher Intensität transnationale Netzwerke, Medien und neue Allianzen eine immer wichtigere Rolle. Damit hinterfragen diese Organisationen auch die konstruierten Grenzen zwischen dem Islam und dem Westen sowie zwischen öffentlichen und privaten Räumen.
Aktuelle Situation
In Ägypten zeigt sich aktuell, dass die unterschiedlichen Frauenorganisationen die politischen Transformationen mitgestalten wollen und werden. Die Tatsache, dass weibliche Rechtsexpertinnen nicht Teil der gerade ins Leben gerufenen verfassungsgebenden Versammlung sind, hat zu gemeinsamen Statements unterschiedlicher Frauenorganisationen geführt, die über unterschiedliche transnationale Netzwerke und Medien verbreitet werden. Inwieweit die politischen Forderungen nach Partizipation und Teilhabe erfolgreich sein werden, bleibt abzuwarten. Das Ringen um Veränderungen dagegen wird es weiter geben.
Univ.-Prof. Dr. Petra Dannecker, M.A. ist Leiterin des Instituts für Internationale Entwicklung der Universität Wien.
Weiterführende Literatur
Petra Dannecker 2011: Transnationale Räume und die Konstitution von lokalen Räumen zur Aushandlung von Entwicklung und Geschlechterverhältnissen, in: Gender. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, Nr. 1, S. 47-64.
Renate Kreile 2006: Frauenbewegungen in der arabischen Welt – Gemeinsamkeiten und Konflikte, in: Der Bürger im Staat, Nr. 2, 1-17.
Gudrun Lachenmann & Petra Dannecker, (Hrsg.) 2008: Negotiating Development in Muslim Societies. Gendered spaces and translocal connections. Lanham: Lexington Books.
Valentine Moghadam 2002: Islamic Feminism and Its Discontents: Towards a Resolution of the Debate, in: Therese Saliba et.al: Gender, Politics and Islam, New Delhi: Orient Longman, S. 15-52.
Amina Wadud 2006: Inside the Gender Jihad, Oxford: Oneworld; Deniz Kandiyoti (ed.) 1991: Women, State, Islam, Philadelphia: Temple.