"Europawahlen sind nicht mehr zweitrangig"

Die Wahlen zum Europäischen Parlament gewinnen in den letzten Jahren an Stellenwert. Die Politik- bzw. KommunikationswissenschafterInnen Sylvia Kritzinger, Wolfgang C. Müller und Hajo Boomgaarden der Universität Wien im Interview zu Demokratie, Politik und Medien in Europa.

uniview: In Ihrem laufenden Projekt befragen Sie BürgerInnen aus acht europäischen Ländern vor Beginn des Wahlkampfs zu ihren Einstellungen zur EU und werden dies nach der Wahl zum Europäischen Parlament wiederholen. Welche europapolitischen Themen treiben die Menschen bisher um?
Sylvia Kritzinger: In Österreich haben die Themen Klimawandel und Umwelt mittlerweile die Themen Arbeitsmarkt und Beschäftigung abgehängt. Dennoch haben Migration, Sicherheit und Kriminalität hierzulande weiterhin bei den WählerInnen Priorität, ebenso die Themen Gesundheit und Pensionen. Aber wir sehen an unseren Daten, dass es einen Ost-West-Unterschied in der Debattenkultur in den unterschiedlichen Ländern gibt. In Deutschland etwa sagen 15 Prozent der Menschen, dass sie nie über Politik diskutieren. In Ungarn sind es nur sieben Prozent, aber dort stehen innenpolitische Themen wie Korruption oder Gesundheitspolitik stärker im Mittelpunkt.

uni:view: Zumindest in den österreichischen Haushalten wird dieser Tage so viel über Politik diskutiert wie sonst selten. Wie beeinflusst der aktuelle politische Ausnahmezustand in Österreich rund um den Strache-Skandal Ihre Studie?
Kritzinger: Wir haben das Glück, dass wir zum Zeitpunkt des Skandals im Feld waren, d.h. gerade Daten bei den WählerInnen mittels Umfragen gesammelt haben. Anhand unserer Daten können wir dann analysieren, ob und wenn ja, welchen Einfluss das Video auf die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen der ÖsterreicherInnen gehabt hat – auch im Hinblick auf die EP-Wahl – und wie sich das politische Kommunikationsverhalten bei den ÖsterreicherInnen geändert hat.

Hajo Boomgaarden: Es ist uns sozusagen ein natürliches Experiment in den Schoß gefallen, sprich wie ändert ein außergewöhnliches Ereignis die Stimmungslage im Land. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist dies ein Glücksfall, weil man solche Ereignisse im Labor nicht simulieren kann. Wir haben auch unsere Umfrage im Anschluss an die Wahl zum Europäischen Parlament auf dieses Ereignis angepasst, um zu eruieren, wie die Veränderungen in der österreichischen Innenpolitik wahrgenommen wurden. Wir sind schon gespannt auf die Daten.

Im internationalen EU-Projekt "RECONNECT" forschen Sylvia Kritzinger, Carolina Plescia und James Wilhelm vom Vienna Center for Electoral Research (VieCER) an der Fakultät für Sozialwissenschaften zu den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament.

Bei "RECONNECT" befragen die PolitikwissenschafterInnen der Universität Wien BürgerInnen in acht verschiedenen EU-Ländern (Deutschland, Frankreich, Spanien, Dänemark, Ungarn, Polen, Italien und Österreich) sowohl vor Beginn des Wahlkampfes (pre-campaign survey) als auch unmittelbar nach der Wahl (post-election survey). Ziel ist es zu ermitteln, wie sich deren Vorstellungen von der EU sowie ihre politischen Einstellungen während des Wahlkampfes verändern. Gleichzeitig untersuchen die ForscherInnen, wie Medien und die Parteienkommunikation die Entscheidungen der WählerInnen beeinflussen.

uniview: Zurück zu den Ergebnissen der Vorstudie. Welchen Stellenwert haben Europawahlen im Vergleich zu früheren Wahlen?
Boomgaarden: In den letzten 20 Jahren hat die Aufmerksamkeit für die Europawahlen deutlich zugenommen. Das Interesse unter den BürgerInnen und den Medien ist gewachsen, Parteien legen sich bei ihren Wahlkampagnen ins Zeug. Das war beispielsweise bei der Wahl von 1999 noch viel weniger der Fall. Heute werden die Europawahlen viel weniger als zweitrangige Wahlen eingeschätzt.

Wolfgang C. Müller: WählerInnen und PolitikerInnen haben europäische Wahlen lange eher wie Zwischenwahlen behandelt, in denen die WählerInnen die jeweilige nationale Politik beurteilen. Der Wahrnehmung nach war nicht viel zu gewinnen: Es gab quasi eine große Koalition aus ChristdemokratInnen und SozialdemokratInnen, die im europäischen Parlament konsenspolitisch agierten. Das hat sich schon bei der letzten Europawahl verändert. Nun gibt es die europäischen SpitzenkandidatInnen, und bei der Wahl 2019 ist eine Mehrheit für eine große Koalition nicht zu erwarten. Die Auseinandersetzungen um die grundsätzliche Richtung der Europäischen Union haben zugenommen.

uniview: Die Wahlbeteiligung war bisher ja relativ niedrig. Gehen EU-BürgerInnen nun häufiger zur Wahl?

Kritzinger: Die Wahlbeteiligung bei EP-Wahlen war in der Vergangenheit nie so hoch wie bei nationalen Wahlen. Aber sie steigt tendenziell, das sind positive Signale für die Demokratie in Europa. 2009 haben ca. 42 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen, 2014 waren es ca. 45 Prozent. Ähnlich wie bei den letzten Wahlen sind die EU-BürgerInnen der westlichen Mitgliedsstaaten nach den Vorwahl-Ergebnissen zwar nicht unglücklich mit den demokratischen Abläufen der EU – aber sie sind zufriedener damit, wie die Demokratie auf der nationalstaatlichen Ebene funktioniert. In Ungarn gibt es den umgekehrten Fall: Die Zufriedenheit mit der EU-Demokratie ist ähnlich hoch oder niedrig wie in Österreich oder Deutschland, aber 50 Prozent der Menschen sagen, dass sie mit den demokratischen Abläufen im eigenen Land unglücklich sind.

Ob bei der Erforschung der Nationalrats- oder Europawahlen: Die interdisziplinären WissenschafterInnen am VieCER arbeiten eng zusammen. Im Bild (v.l.n.r.): Sylvia Kritzinger, Wolfgang C. Müller und Hajo Boomgaarden. (© Universität Wien)

uniview: Fühlen sich die EuropäerInnen von der Politik abgehängt?
Müller: Wir fragen in der Studie danach, welchen Einfluss die BürgerInnen glauben mit der Wahl auf die EU-Politik nehmen zu können. Die Hälfte der ÖsterreicherInnen hat vor Beginn des Wahlkampfes gesagt: "Es ist völlig egal, wen ich wähle. Innerhalb der EU wird sich nichts verändern". Wer wenig Effizienz im eigenen Handeln sieht, wird entsprechend seltener zur Wahl gehen. Auf der nationalstaatlichen Ebene schätzen sie ihre Möglichkeit zur Einflussnahme etwas höher ein.

uni:view: Wie schätzen Sie wirkt sich die aktuelle Regierungskrise auf die österreichische Beteiligung bei der EP-Wahl aus?

Müller: Das kommt einem Blick in die Glaskugel gleich. Es kann in beide Richtungen gehen. Einerseits, dass aufgrund von Politikverdrossenheit die Menschen zu Hause bleiben, andererseits, dass die Wahlbeteiligung steigt, da die WählerInnen ihre politische Haltung ausdrücken möchten, ein solcher Skandal also mobilisierend wirken kann.

uniview: Woher kommt die geringere Zufriedenheit mit der Demokratie in Europa?

Boomgaarden: Das hat zwei primäre Gründe: Zum einen sind die gesetzgeberischen Prozesse auf europäischer Ebene furchtbar kompliziert. Zum anderen gibt die Mehrheit der ÖsterreicherInnen an, dass sie Mühe haben, EU-Themen und -Politik nachzuvollziehen. Gerade einmal 30 bis 35 Prozent attestieren sich ein gutes Verständnis von europäischer Politik. Dies hängt auch damit zusammen, wie die EU-Institutionen besetzt werden: Der Europäische Rat oder auch die Kommission sind weniger demokratisch legitimiert als die Institutionen auf nationaler Ebene. Eine wesentliche Veränderung ist die Aufstellung der SpitzenkandidatInnen und die damit zusammenhängende Wahl des Kommissionspräsidenten, wenn es denn so kommt. Das ist ein positiver Schritt hin zu mehr Demokratie.

Kritzinger:
Wir haben in den Umfragen erhoben, wie gut sich BürgerInnen mit den EU-Institutionen auskennen. Auf die Frage, wer im europäischen Kontext formal Gesetze vorschlägt, sagen 40 Prozent: das Parlament. Das ist auf nationaler Ebene richtig, aber nicht im europäischen Institutionengefüge. Hier liegt das Initiativrecht bei der Kommission, aber das wissen nur ca. 35 Prozent der Befragten. Wie das politische System der Europäischen Union aufgebaut ist, ist nicht bei den BürgerInnen angekommen. Nach dem Wahlkampf werden wir dieselbe Frage noch einmal stellen, um messen zu können, wie gut die Aufklärungsarbeit gewirkt hat, die die Medien derzeit leisten.

Das VieCER ist ein interdisziplinäres Forschungszentrum an der Fakultät für Sozialwissenschaften, das sich mit allen Aspekten von Wahlen beschäftigt. Seit 2008 analysiert das VieCER u.a. im Rahmen von Austrian National Election Study (AUTNES) die österreichischen Nationalratswahlen, wobei sowohl die Parteienkommunikation, die Medienberichterstattung als auch die Positionen und das Wahlverhalten der BürgerInnen im Mittelpunkt des Interesses stehen.

Mit seinen Forschungen schafft das VieCER einen einzigartigen Datenschatz, der laufend der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die stetig fortgeschrieben Daten ermöglichen es, Vergleiche zwischen einzelnen Wahlen zu ziehen und Veränderungen über die Zeit zu untersuchen. In ihrem regelmäßigen Blog berichten die WissenschafterInnen in leicht verständlicher Sprache über ihre Ergebnisse.

uniview: Wie gut machen die Medien ihren Job, BürgerInnen über die EP-Wahl zu informieren? Boomgaarden: Sie geben Raum für die Debatte, es gibt Fernsehduelle zur Prime Time, sie berichten über den Wahlkampf und europapolitische Themen. Unsere Studienergebnisse stehen noch aus, aber im Vergleich zu früheren Wahlen, etwa der 2000er Jahre, scheint die Aufmerksamkeit der Medien und auch die Differenziertheit der Berichterstattung zuzunehmen. In der Vergangenheit wurde entweder gar nicht über europäische Belange gesprochen oder diese lediglich im nationalstaatlichen Kontext thematisiert. Dennoch sehen wir in Österreich, dass die Parteien sich weiterhin stark entlang nationaler Konfliktlinien positionieren.

uni:view: Was fällt in der Parteienkommunikation hierzulande in diesem Wahlkampf besonders auf?
Müller: Viele Parteien tun sich schwer, den Spagat zwischen europäischen Themensetzungen und innenpolitischen Interessen überzeugend hinzulegen. In der Wahl sollte es um europäische Themen gehen, aber so lange die Wahl anhand von nationalen Listen organisiert ist (was ja durchaus zur Diskussion steht), wird es schwierig sein, einen reinen Europawahlkampf in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu gestalten. Es sind eher die kleinen Parteien, die recht erfolgreich mit Fokus auf Europa Wahlkampf führen. Die jüngsten innenpolitischen Ereignisse führen jedoch sicherlich nicht zu einer Europäisierung des Wahlkampfes in der letzten Woche vor der Wahl.

uniview: Welche Rolle spielen heute soziale Medien im Wahlkampf?
Müller: Über die sozialen Medien können Parteien direkt mit den BürgerInnen kommunizieren. Sie erlauben ihnen, Inhalte aus dem allgemeinen Informationsangebot auszuwählen und selektiv weiterzugeben. Keine Partei wünscht sich, dass ihre politischen Positionen kritisch hinterfragt werden – aber dies gilt eben für manche Parteien mehr als für andere. Die rechten politischen Parteien haben früh begonnen, mit Instrumenten wie den sozialen Medien zu experimentieren, und sie haben eine große Fangemeinschaft aufgebaut.

uniview: Im Zusammenhang mit dem Brexit wurde viel darüber diskutiert, wie weit die EU in der Krise steckt. Wie stark ist der Euroskeptizismus bei dieser Wahl?
Boomgaarden: Es gibt ja nicht nur SkeptikerInnen, im Gegenteil. Schon seit der letzten Wahl beobachten wir, dass sich mehr und mehr Parteien dezidiert pro-europäisch positionieren. In den Wahlkämpfen der 2000er Jahre war dies deutlich weniger der Fall. Auch die Debatten darum, was Europa ist und sein sollte, war ein Thema der Parteien vor allem des linken oder rechten Seite des politischen Spektrums. Diese Diskussionen sind heute in der politischen Mitte angekommen und in vielen Ländern fordern Parteien eine vertiefte europäische Integration. Hier gibt es für Europa eine sehr positive Entwicklung.

uni:view: Wie geht es nach der Wahl mit Ihrer Studie weiter, wann sind Ergebnisse zu erwarten und was haben Sie mit diesen vor?
Kritzinger: Sozialwissenschaftliche Analysen brauchen Zeit. Derzeit erheben wir noch Daten zum Wahlkampf, die sorgsam ausgewertet werden wollen, und starten mit neuen Umfragen in acht Ländern – inklusive Österreich – unmittelbar nach der EP-Wahl. Am Ende werden wir in der Lage sein zu beantworten, wie sich die Einstellungen der WählerInnen im Wahlkampf entwickelt haben. Wir werden außerdem ein umfassendes Bild der Berichterstattung in den Medien, auch in den sozialen Medien, und der Parteienkommunikation präsentieren können.

Derzeit verfassen wir für die unterschiedlichen Länder, die wir untersuchen, schon kurze Blogbeiträge, die wir auch nach der Wahl mit den neuesten Daten fortsetzen werden. Wer schon jetzt mehr wissen möchte, kann sich dort informieren. Eine Zusammenfassung der längeren Blogbeiträge ist hier zu finden. Die Daten selbst werden dann mit Ende des Jahres für wissenschaftliche Zwecke in The Austrian Social Science Data Archive (AUSSDA) erhältlich.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Claudius Müller (Institut für Staatswissenschaft) ist Leiter des Vienna Center for Electoral Research (VieCER) an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien. Univ.-Prof. Mag. Dr. Sylvia Kritzinger (Institut für Staatswissenschaft) und Univ.-Prof. Hajo Boomgaarden, PhD (Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft) haben die stellvertretende Leitung inne.

Das Projekt "Reconciling Europe with its Citizens through Democracy and Rule of Law" (RECONNECT) unter der Leitung des Leuven Centre for Global Governance Studies an der KU Leuven versammelt neben dem
Vienna Center for Electoral Research (VieCER) noch 17 weitere Partnerinstitute in ganz Europa. Es läuft vom 1. Mai 2018 bis 30. April 2022 und wird durch das Horizon 2020-Programm der Europäischen Kommission gefördert.