"Ein wenig Quadriceps und Sauerstoff"

Die Faszination des Fahrradfahrens hat sich zum 200. Jahresjubiläum nicht verändert. Wie sich das Fahrrad aus der adeligen Elite in ein Stadtbild des urbanen Kults entwickelte, wissen Sportwissenschafter Rudolf Müllner und Historiker Bernhard Hachleitner.

uni:view: Die Erfindung der Draisine im Jahr 1817 markiert den Beginn der Fahrradkultur und ist Anlass Ihres Buches "Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radfahren in Wien", bei dem Sie beide als Co-Herausgeber fungieren. Wie gestalteten sich die Anfänge des Radfahrens konkret in Wien?  
Rudolf Müllner: Die Draisine aus dem Jahr 1817 war eigentlich nur ein mechanischer Vorläufer, der nicht wirklich massenwirksam geworden ist. Richtig los geht es in Wien erst 1863 mit dem Hochrad. Und das war damals elitär, weil teuer und männlich geprägt. Wenn die Fahrer damit so abgehoben durch die Gegend radelten, waren das ästhetisch sehr ansprechende Bilder und es erregte natürlich auch Aufsehen. Die Höhe des Sattels war beachtlich, Stürze waren fatal – es erforderte durchaus Mut auf den nicht asphaltierten Straßen und ohne Gummireifen damit zu fahren. Erst in den 1890er Jahren, als sich das niedriger gelegte, sogenannte Safety-Rad durchsetzte, kam es zum Durchbruch.
 
Bernhard Hachleitner: Man darf nicht vergessen, dass es das Auto de facto noch nicht gab. Der Straßenverkehr von damals war von der Straßenbahn, die eine Pferdetram war, von Kutschen, Pferden oder FußgängerInnen geprägt. In all dem vermittelte das Radfahren ein Gefühl der individuellen Freiheit. Es machte unabhängig von Fahrplänen und vervielfachte den Aktionsradius im Vergleich zum Zu-Fuß-Gehen.

Buchtipp zum Thema: "Motor bin ich selbst. 200 Jahre Radfahren in Wien", herausgegeben von Bernhard Hachleitner, Matthias Marschik, Rudolf Müllner und Michael Zappe. Metroverlag 2013
Erhältlich in der UB Wien

uni:view: Wie ist die Stadt mit dem neuen Verkehrsmittel umgegangen?
Hachleitner:
Das Radfahren war strikt reglementiert. Es gab eigene Stadtpläne, in denen vermerkt war, wo man fahren durfte und wo nicht. Bis 1897 musste man in Wien sogar eine Führerscheinprüfung in einem Verein oder einer Radfahrschule ablegen. Aus den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten gab es um 1900 herum bereits rund 300 Fahrradklubs. Es herrschte ein extremes Modernisierungsklima. Beschleunigung, Fortschritt, Tempo waren die Schlagworte dieser.

uni:view: Wozu brauchte es so viele verschieden Klubs, reichte denn nicht einer?

Müllner:
Das ist so ähnlich wie heute. Es gibt unterschiedliche "Stämme" von RadfahrerInnen – von Mountainbikern über urbane Single Speed-FahrerInnen, E-Biker bis zu den Donauinsel-Cruisern. Seit ein paar Jahren gibt es den Vienna Tweed Ride, wo sich Retro-RadfahrerInnen mit Tweetjacken kostümieren und sich im Prater treffen, dann die klassischen RennradfahrerInnen, die die Donauinsel auf und ab Kilometer machen oder die Hardcore-Winter-DurchfahrerInnen.

Hachleitner:
Generell gesagt ist es so, dass sich gesellschaftlich relevante Gruppierungen auch um das Radfahren ansiedeln, seien es Frauenvereine, deutschnationale oder jüdische Vereine. Auch die sozialdemokratischen Arbeitervereine waren wichtig. So war der ARBÖ in seiner Gründung ein Radfahrverein, der Arbeiter-Radfahr-Bund-Österreich. Erst in den 1950er Jahren ist der ARBÖ zu einem reinen Autofahrerklub geworden.

Grußpostkarte aus Wien um 1900. (Foto: Wien Museum)

uni:view: Von der österreichischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rosa Mayreder stammt das Zitat "Das Fahrrad hat mehr für die Emanzipation der Frauen getan, als die Frauenbewegung". Sehen Sie das ebenso?
Hachleitner: Zur Zeit des Fahrradbooms um 1900 kamen auch immer mehr Frauen hinzu. Bereits 1893 wurde der Wiener Frauen Bicycle Club gegründet. Frauen haben große Widerstände überwinden müssen und gerade die Kleidung war ein großes Thema. Die langen Röcke waren nicht wirklich zum Radfahren geeignet und Hosen waren für Frauen im gesellschaftlichen Sinne tabu. Aus dieser Misere wurde dann ein spezieller Hosenrock entwickelt, der es dann den Frauen gestattete, ebenso 'gesellschaftsfähig' mit dem Rad unterwegs zu sein. Aus dieser Tatsache rührt das Zitat von Mayreder, da der Hosenrock generell als Befreiungsakt auch aus den strikten Kleidungsvorschriften gesehen wurde. 
 
Müllner: Die Kleidung war ein Teil, zusätzlich haben zu dieser Zeit jahrelang Diskurse vorgeherrscht, die den Frauen das Radfahren absprachen. Frauen auf Rädern wurden von den Männern als unästhetisch denunziert. Mediziner behaupteten, es schädige die Gebärmutter und es würde die Frauen krumm machen. Des Weiteren würde es sexualisieren und zur Onanie anleiten. Die wirkliche Gefahr war jedoch, dass Frauen den öffentlichen Raum offensiv in Anspruch nahmen, mit dem Rad flexibler, schneller und damit sowohl körperlich als auch symbolisch und politisch mächtiger wurden.

uni:view: Europas Fahrradstädte hatten in den 1960er Jahren ihren Aufschwung, in Wien war es genau umgekehrt, zu dieser Zeit begann der Siegeszug des Autos. Welche Faktoren waren dabei ausschlaggebend?
Hachleitner: Die Wiener Sozialdemokratie hat sich mit dem Fahrrad immer schwer getan. Das war schon im Roten Wien der Ersten Republik der Fall. Wohnbauten, Spitäler etc. wurden errichtet, allerdings innerhalb eines sehr kontrollierten Systems. Dieses Credo galt auch beim Sport: Sport ist wichtig, aber bitte im Verein. Das Fahrrad war ihnen dabei zu wenig kontrollierbar, zu individualistisch. Diese Logik hat sich – bei allen Veränderungen – auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch ausgewirkt. Die Sozialdemokratie hat auch das Konzept verfolgt "Wir wollen den ArbeiterInnen den Zugang zu dem ermöglichen, was bisher nur den Bürgerlichen vorbehalten waren". Und das war zu jener Zeit das Auto. Insofern wurde das Fahrrad stigmatisiert: Nur wer sich kein Auto leisten konnte, fuhr mit dem Fahrrad. Erst in den späten 1970er Jahren wurde das Fahrrad von der Alternativkultur wiederentdeckt. Rund um Zwentendorf kam es zu den ersten Fahrraddemos.

Die Wiener Sozialdemokratie förderte besonders in den 19650ern und 1960ern die Motorisierung, sodass es für alle Gesellschaftsschichten leistbar wurde. Insofern wurde das Fahrrad als "Arme Leute Vehikel" stigmatisiert. (Plakat der SPÖ, 1958. Plakatsammlung Wienbibliothek)

Mit der Erfindung des Mountainbikes in den 1980er Jahren kommt eine zweite Welle und das Fahrrad wird als Sportgerät neu entdeckt. Das Rennrad gibt es zwar kontinuierlich, aber auch immer recht abgegrenzt. Erst mit dem Mountainbike wird das Fahrrad wieder cool. Darauf reagiert auch die Stadt Wien, die ersten Radwege kommen wieder und die ersten Stadtpläne für Radfahrer sind auf diese Freizeitnutzung ausgelegt. Seit dem geht es stetig bergauf. 

uni:view: Welche Rolle spielt das Fahrrad für Sie persönlich?
Müllner: Ich kann damit zur Arbeit fahren und das Auto stehen lassen. Es ist ein geniales, weil auch billiges Fitnessgerät. Man braucht nur ein wenig Quadriceps und Sauerstoff. Es hilft auch, um die Gedanken zu sortieren und macht einfach zufrieden.

Hachleitner: Ich bin nicht in Wien aufgewachsen, sondern auf dem Land und da war das Rad für mich ein ganz normales Fortbewegungsmittel. Es ist für mich aber auch ein Sportgerät, einige Zeit bin ich sogar Radrennen gefahren. Es gab aber auch zehn Jahre in denen ich gar nicht Rad gefahren bin. Für mich bringt das Rad die vielen scheinbaren Widersprüche in mir zusammen.
 
uni:view: Vielen Dank für das Gespräch!

Rudolf Müllner ist am Institut für Sportwissenschaft am Zentrum für Sportwissenschaft und Universitätssport der Universität Wien tätig. Bernhard Hachleitner lebt und arbeitet als Historiker, Kurator und Journalist in Wien.

Ein großes Danke an Petra Puffer für die textliche Unterstützung!