"Die Welt ist nicht religiöser geworden"

In welcher Wechselwirkung stehen Wandlungen in Religion und Gesellschaft? Diese Frage steht im Mittelpunkt des Uni Wien-Forschungszentrums "Religion and Transformation in Contemporary Society". uni:view sprach mit einem der Zentrumsleiter, dem Theologen Kurt Appel, zur aktuellen Semesterfrage.

uni:view: Herr Appel, in der Forschungsplattform "Religion and Transformation in Contemporary Society" (RaT) sowie in dem daraus hervorgegangenen Forschungszentrum spielt Europa eine wichtige Rolle: Forschungsschwerpunkte sind etwa "Rethinking Europe with(out) Religion", "The Crisis of Representation" und "Religion and Boundaries". Welche Rolle spielt heutzutage Religion in Europa?
Kurt Appel: Religion ist ein großer Player in der Identitätsgebung unserer Gesellschaft. Ob affirmativ oder in Abgrenzung, sie ist auf jeden Fall präsent. Persönlich glaube ich nicht, dass die Welt religiöser geworden ist – im Gegenteil. Aber ich glaube auch, dass viele Leute sich von dem Gedanken verabschiedet haben, alles auf soziale und wirtschaftliche Faktoren herunterbrechen zu können. Religion ist ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor; oder philosophisch-theologisch formuliert: Unsere Gesellschaften sind bestimmt durch symbolische Ordnungen: Sprachen, Kultur, Institutionen usw. Ich glaube, dass der Beitrag, den Religionen für diese symbolischen Ordnungen leisten, heute viel stärker im Fokus steht als noch in den letzten Jahrzehnten.

Mit April 2018 richtete die Uni Wien das interdisziplinäre Forschungszentrum "Religion and Transformation in Contemporary Society" (RaT) ein, das WissenschafterInnen aus sieben Fakultäten und 14 Disziplinen vereint. RaT erforscht die Beziehung von Religion, Religiosität und Transformationsprozessen im gegenwärtigen globalen Kontext. Es führt die Arbeit der gleichnamigen Forschungsplattform, die von 2010 bis 2018 als Einrichtung der Uni Wien bestand, fort (zum uni:view-Artikel) (© RaT)

Eine große Frage unserer Demokratie ist die des öffentlichen Raums, zu dem alle potenziell Zugang haben sollen. Momentan gibt es die Tendenz, öffentliche Räume auf der einen Seite zu privatisieren, auf der anderen Seite das Private zu veröffentlichen. Bei dieser Aushandlung spielen auch die Religionen eine Rolle. Diejenigen Religionsgemeinschaften, die Westeuropa über Jahrhunderte geprägt haben, die evangelische und katholische Kirche, sind längst keine Mehrheitsreligionen mehr. Allerdings steht ein bedeutender Teil des öffentlichen Raums in Besitz oder in Zusammenhang mit Strukturen dieser Religionsgemeinschaften. Hier gilt es, innerhalb dieser Religionen ein Bewusstsein zu schaffen für die Verantwortung gegenüber dem öffentlichen Raum.

uni:view: Können Sie ein Beispiel geben?
Appel:
Nehmen wir einen Pfarrhof: Es wäre ein Gebot der Stunde, dass er – wie es ja auch geschieht – für Kinder verschiedenster Konfessionen zum Spielen und Verweilen geöffnet wird. Oder ein anderes Beispiel von einem Freund und Kollegen aus Belgien: Dieser führt im Auftrag der Katholischen Kirche Belgiens gerade ein Projekt durch, das katholische Privatschulen auch für MuslimInnen öffnet und dafür islamische Gebetsräume in diesen Schulen einrichtet. In Belgien sind 50 Prozent der Schulen öffentlich, 50 Prozent katholisch. Viele Muslime und Musliminnen möchten ihre Kinder nicht in die konfessionsfrei ausgerichteten öffentlichen Schulen schicken. Das sind Aufgaben, mit denen sich Religionsgemeinschaften auseinandersetzen müssen.

uni:view: Auch Universitäten sind Teil des öffentlichen Raums. Welche Rolle haben WissenschafterInnen im gesellschaftlichen Diskurs?
Appel:
Universitäten habe eine wichtige Aufgabe, die sie niemals vergessen dürfen: Gesellschaftskritik. Hier sehe ich unser Forschungszentrum als einen kleinen Beitrag, dieser Aufgabe nachzukommen. Mir ist die Verbindung zur Gesellschaft sehr wichtig. Wir versuchen etwa, mit VertreterInnen politischer Parteien und staatlicher Institutionen ins Gespräch zu kommen. Im Rahmen der Forschungsplattform hatten wir auch schon viele VerantwortungsträgerInnen zu Gast, beispielsweise den ehemaligen deutschen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse, es gab Kontakt zu Romano Prodi, Heinrich Neisser, Erhard Busek, Ulrike Lunacek, um nur ein paar Beispiele zu nennen. In der aktuellen PolitikerInnengeneration ist es jedoch schwieriger als früher, jemand passenden zu finden. Ich habe das Gefühl, es gibt in der Politik weniger Intellektuelle als früher.


Am 14. Jänner 2019 findet die Abschlussveranstaltung zur aktuellen Semesterfrage im Audimax statt. Nach einem Impulsreferat von Franz Vranitzky, österreichischer Bundeskanzler 1986-1997, zum Thema "Was eint Europa?" diskutieren mit ihm am Podium Sylvia Hartleif, Leiterin Außenpolitik des Europäischen Zentrums für politische Strategie (Europäische Kommission), die österreichische Schriftstellerin Maja Haderlap, EU-Aktivistin und Studentin Nini Tsiklauri sowie seitens der Universität Wien Gerda Falkner vom Institut für Europäische Integrationsforschung und Martin Kocher vom Institut für Volkswirtschaftslehre und IHS-Leiter. Moderiert wird der Abend von "DerStandard"-Chefredakteur Martin Kotynek.

uni:view: Aktuell bezieht sich die Politik wieder verstärkt auf Religion. Rechte Parteien wie die FPÖ, AfD etc. konstruieren ein dichotomes Feindbild à la Christentum vs. Islam, "Wir gegen die Anderen" …
Appel:
Meines Wissens nach verweigern sich momentan zumindest die größeren Kirchen diesem Narrativ. Die hohe Zustimmung, die solche Parteien gerade bekommen, allerdings ausschließlich mit Rassismus zu erklären, greift für mich zu kurz. Ein wichtiges Stichwort für eine Analyse der aktuellen Situation scheint mir der sogenannte Neoliberalismus.

Neben all den sozialen und ökologischen Problemen, die mit ihm verbunden werden, hat er im Grunde genommen die Staatlichkeit im Bereich der Wirtschaft außer Kraft gesetzt. Ich glaube, jetzt erleben wir Ähnliches bei der Migration. Für mich lautet die entscheidende Frage: Wie weit müssen die Handlungsspielräume von Staaten gehen? Im Moment ist dieser Handlungsspielraum zunehmend eingeengt. Gerade in einem Zeitalter, wo traditionelle soziale und kulturelle Sicherheiten auseinanderbrechen, sehen Leute den Staat als Garant von sozialer und gesellschaftlicher Sicherheit massiv bedroht.

Im Neoliberalismus stehen wir unter der ständigen Forderung, unsere eigene Trademark zu erfinden. Alles ist in permanenter Veränderung, jede Geschichte und jedes Gedächtnis geht dabei verloren, alles ist "fake". Wir befinden uns eigentlich in einer virtuellen Welt von "fakes", in der selbst die Sprache nicht mehr auf Realität, sondern auf unmittelbare Investitions- und Vermarktungsmöglichkeiten zielt. Die Umwelt, das Leid anderer Menschen, aber auch die Institutionen, die unser Zusammenleben regeln, verlieren ihren realen Kern. Dadurch erodiert der gesellschaftliche Zusammenhalt, was dem Diskurs einer Rechten dient, die ein "Wir-Gefühl" im Zeichen des Ausschlusses anderer als Leitnarrativ und kollektive Trademark durchsetzen und den demokratischen Rechtsstaat durch einen "Staat" auf völkischer Basis ersetzen will.

Von Religion und Krieg über die Sprache der Spiritualität tauber ChristInnen bis hin zur Rolle von Frauen im jüdisch-christlich-muslimischen Kontext. Auf dem RaT Blog  berichten Mitglieder der Plattform über ihre Forschung und bloggen zu aktuellen Themen. (© Screenshot RaT Blog)

uni:view: An RaT sind insgesamt ca. 30 WissenschafterInnen von sieben Fakultäten der Uni Wien beteiligt. Zudem arbeiten Sie mit internationalen KooperationspartnerInnen zusammen. Worin liegen die Vorteile?
Appel: Die Uni Wien ist im Bereich der Religionsforschung hervorragend aufgestellt. Das Forschungszentrum hilft uns bei der internen Vernetzung. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass durch RaT die große Expertise an der Uni Wien auch international sichtbarer wird. Wir haben z.B. einen Blog eingerichtet, der sehr gut angenommen wird.

RaT ist zudem Teil des internationalen Konsortiums SIMAGINE mit Sitz in Utrecht/Brüssel, dem Mitglieder zahlreicher Fakultäten aus den Niederlanden, Belgien, USA, Großbritannien und Österreich angehören. Gemeinsam führen wir das Forschungsprojekt "Social Imaginaries between Secularity and Religion in a Globalizing World" durch. Diesem Thema ist auch bald eine Ausgabe unserer Open-Access Zeitschrift gewidmet.

Seit 2015 gibt RaT das "Interdisciplinary Journal for Religion and Transformation in Contemporary Society", kurz J-RaT, heraus. Die interdisziplinäre und internationale online Open-Access Zeitschrift hat ein peer-review Verfahren und erscheint halbjährig. Die aktuelle Ausgabe behandelt das Thema Kriegsmoralitäten und Religion aus einem historischen Blickwinkel. (zur eLibrary)

uni:view: Abschließend noch Ihre Antwort auf unsere aktuelle Semesterfrage "Was eint Europa?" …
Appel:
Wie bereits erwähnt: Europa eint der Gedanke des öffentlichen Raums, der grundsätzlich für alle zugänglich sein soll. Dazu gehört ein spezifisch religiöser Umstand, der manchmal etwas unterschätzt wird: Die säkulare Welt neigt dazu, die Toten zu verdrängen. Dabei sind wir ja die meiste Zeit tot. (lacht) Dieser Umgang mit den Toten ist etwas, mit dem Menschen aus anderen Kulturkreisen und religiösen Traditionen wenig anfangen können. Hier stellt sich die Frage, ob nicht auch unsere Toten in gewisser Weise Teil des öffentlichen Raums sein müssten, nicht zuletzt in Form einer Erinnerungskultur.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (mw)

Kurt Appel ist seit Oktober 2011 Professor für Theologische Grundlagenforschung (Fundamentaltheologie) am Institut für Fundamentaltheologie der Universität Wien. Er forscht u.a. zu den Themen Religionsphilosophie, Geschichtstheologie, Gottesfrage, Theologie als Gesellschaftskritik, Neuer Humanismus sowie Christentum und Europa.