Die Weißwangengans: Nomaden der Lüfte

Ob Hundertfüßer, Mondmuschel oder Gans: ForscherInnen gehen mitunter eine jahrelange "Symbiose" mit "ihrem" Forschungstier ein. Im Zeichen der Semesterfrage stellen WissenschafterInnen der Uni Wien ihren wichtigsten Partner vor. Den Anfang macht Verhaltensbiologin Isabella Scheiber.

Mensch & Tier im Kurzporträt

Forscherin: Isabella B. R. Scheiber (© Jan Komdeur)
Art/Gattung: Homo sapiens cum investigationis socialis mores anserum
Ernährung:
Omnivore mit Vorliebe für die italienische Küche. Motto: Leben ohne Schokolade ist zwar vorstellbar aber keine Option!
Lebensraum:
im Sommer nördlich des Polarkreises, im Herbst/Winter bayerische Alpen mit Abstechern nach Wien
Vorkommen:
bevorzugt kühle Gegenden wie das bayerische Alpenvorland ganzjährig, kann im Sommer auch am nördlichsten Ort der Welt, Ny-Ålesund auf der Spitzbergen Inselgruppe, angetroffen werden. Regelmäßige Besuche an der Universität Wien.


Forschungstier: Weißwangengans/ Nonnengans (© Margje de Jong)
Art/Gattung: Branta leucopsis
Ernährung: Vegetarisch. Vorliebe für Gras, Brackwasserpflanzen, im Sommer polare Flechten und Moose.
Lebensraum: Enge Bindung an Meeresküsten, besonders im Winter, Brüten in Kolonien auf räuberfreien Inseln, Felsvorsprüngen und an Flüssen in der Arktis, inzwischen aber auch an der Ostseeküste
Vorkommen: Zugvogel, brütet im (hohen) Norden, überwintert in Mitteleuropa
Paarungssystem: Langzeit monogam, beide Eltern betreiben Brutpflege, Familien bleiben bis zum Frühjahreszug zusammen

Was ist so faszinierend an Gänsen?

Gänse sind hochsozial. Ihre familiären Beziehungen bestehen über Jahre, und sie unterstützen sich gegenseitig. So werden sie auch mit Stresssituationen besser fertig. Seit 2013 habe ich das Glück, mit den Weißwangengänsen in Spitzbergen zu arbeiten: eine der am besten untersuchtesten Vogelpopulationen der Welt. Die Brutplätze im Winter in Schottland sind bekannt, auch die Zugrouten im Frühjahr und Herbst. Knapp die Hälfte der Gänse rund um Ny-Ålesund ist beringt, also individuell erkennbar. So können wir Individuen dieser wilden Population durch das gesamte Jahr begleiten!

Mein aktuelles Projekt ganz einfach erklärt

Die meisten biologischen Vorgänge im Körper, auch die Ausschüttung von Hormonen, werden über den Tag-Nacht Rhythmus gesteuert. Doch was passiert, wenn ein Tag 24 Stunden dauert – wie im Sommer in Spitzbergen? Ziel unserer Forschung ist es, die Ausschüttung von drei Hormonen über ein gesamtes Jahr an individuellen Weißwangengänsen zu bestimmen, um zu sehen, wie sie sich unter verschiedenen Lichtverhältnissen verändert und was sie kontrolliert, wenn der Tag-Nacht-Rhythmus kein zuverlässiger Zeitgeber ist.

Verhaltensbiologinnen Isabella Scheiber und Margje de Jong (im Bild) forschen mit Weißwangengänsen in Spitzbergen. (© Daniel Hitchcock)

Die Weißwangengans und ich – wie wir uns kennenlernten

Als ich an der Konrad Lorenz Forschungsstelle in Grünau im Almtal tätig war, sind mir die Weißwangengans-Graugans Mischlinge durch lautes Geschnatter und aggressives Verhalten aufgefallen. Wir waren damals froh, sie verschenken zu können. Im Gegensatz zu den "würdevollen" Graugänsen verhielten sich die Weißwangengänse wie die "jungen Wilden". Als ich die Weißwangengänse in Spitzbergen in ihrer natürlichen Umgebung gesehen habe, wurde mir der Grund klar. Unter den extrem harschen Bedingungen Junge aufzuziehen ist eine Höchstleistung! 

Jedes Semester stellt die Universität Wien eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Die Semesterfrage im Wintersemester 2019/20 lautet: Wie schützen wir die Artenvielfalt? Zur Semesterfrage

Ein typischer Tag im Leben der Weißwangengans

Im Wesentlichen wird der Tag von Fressen und Ruhen bestimmt. In den Winterquartieren in Schottland verbringen die Gänse die Nacht schlafend auf räubersicheren Gewässern, während der Tag zum Fressen genutzt wird. Im Sommer, wo der Tag in Spitzbergen 24 Stunden dauert, halten sie in etwa einen Zwei-Stunden-Rhythmus ein: Sie fressen ca. eine halbe Stunde, und ruhen dann eineinhalb Stunden.

Gössel (Gänseküken) müssen wegen des harschen Klimas in der Arktis bereits im Alter von 40-45 Tagen flügge werden. (© Margje de Jong)

Sind Weißwangengänse gefährdet?

Die Zahlen der Weißwangenganspopulationen steigen überall. Schätzungen zufolge ist die Population in Spitzbergen von 2008 bis 2018 von knapp 30.000 auf über 40.000 Individuen angestiegen. Doch der Bruterfolg nimmt seit den späten 1990er Jahren stetig ab. Dies ist auf den Anstieg sowohl der Polarfüchse als Haupträuber der Gössel (noch nicht flügge gewordene Jungvögel) als auch der Eisbären zurückzuführen. Ein einziger Bär genügt, um die Eier der gesamten Gelege auf einer Brutinsel zu fressen!

Welche Rolle spielt die Weißwangengans innerhalb ihres Ökosystems?

Arktische Weißwangengänse schaffen eine wichtige Verbindung zwischen den südlichen Überwinterungsquartieren, den Aufenthaltsorten während des Zuges und den arktischen Brutgebieten. Durch ihren Kot bringen sie Nährstoffe in neue Gebiete. Auf diese Weise sowie durch Anhaftungen an Federn können auch Pflanzen, Mikroorganismen und wirbellose Lebewesen übertragen werden.
Dies führt zu einer Nährstoffanreicherung des arktischen Bodens und der sonst nährstoffarmen Teiche. Das erhöht nicht nur die Anzahl der dort lebenden Individuen, sondern auch die Zusammensetzung der Arten und die Nahrungsnetzstruktur.

Polarfüchse gehören zu den gefährlichsten Räubern der Gössel. (© Margje de Jong)

Nehmen wir an, Weißwangengänse würden aussterben: Welche Auswirkungen hätte das?

Sollten die Zahlen der arktischen Weißwangengänse massiv abnehmen, würde sich das stark auf ihre Räuber, wie Polarfüchse und Eisbären, auswirken. Die Artenvielfalt in Spitzbergen ist gering. Nirgends geht die Klimaerwärmung so schnell vor sich wie in den Polarregionen. Vor allem Eisbären sind vom Schmelzen des See-Eises betroffen. Sie können immer weniger Robben jagen, da die Eisdecke sie nicht mehr trägt. Weißwangengänse sind eine wichtige Nahrungsquelle. Auch die Nährstoffzuführung durch die Gänse würde abnehmen, was Veränderungen in der arktischen Süßwassergemeinschaft zur Folge hätte. 

Weißwangengänse bringen den Jungen keine Nahrung zum Nest. Die ein bis zwei Tage alten Gössel müssen oft aus den in den Felswänden liegenden Nestern über 100 m in die Tiefe springen. (© Margje de Jong)

Eine Legende, die sich um die Weißwangengans rankt

Im Englischen nennt man die Weißwangengans "barnacle goose" (barnacle = Seepocken; goose = Gans). Die "Seepocken-Gans" wurde nach den Krebstieren benannt, die sich an Schiffe anheften. Das arktische Brutgebiet der Weißwangengans gab im England des Mittelalters Rätsel auf. Man glaubte, dass die Weißwangengans sich nicht durch Eierlegen vermehrt, sondern aus dem auf dem Meer schwimmenden Treibholz hervorwächst. Niemand hatte Nester, Eier oder Jungvögel der Weißwangengans gesehen. Im Mittelalter und in früheren Zeiten glaubten auch viele Menschen, dass Weißwangengänse aus Seepocken geboren wurden. Irische Geistliche nutzten diese Mythen, um die Gänse während der Fastenzeit zu verzehren. 

Was viele an der Weißwangengans erstaunt

Sie kann bis zu 24 Jahre alt werden!

Im Regulieren biologischer Rhythmen spielt die tägliche oder jahreszeitliche Ausschüttung von Hormonen zur Synchronisierung biochemischer - und Verhaltensprozesse eine wichtige Rolle. In Ihrem aktuellen FWF-Projekt erforscht Isabella Scheiber zusammen mit Eva Millesi und Maarten Loonen die Zusammenhänge von drei rhythmischen Hormonen und ihren Einfluss auf tägliche und saisonale Verhaltensmuster anhand von Weißwangengänsen in Spitzbergen.