"Die Bremse hat funktioniert"

Bremslichter von Autos im Stau

Im Interview spricht der Biomathematiker Joachim Hermisson, der aktuell mit Kollegen die Bundesregierung zu COVID-19 berät, über die Hintergründe des viel zitierten Expertenpapiers. Insgesamt funktionieren die Maßnahmen, aber man sei noch weit weg von einer Normalität.

uni:view: Herr Hermisson, wie geht es Ihnen in der jetzigen Situation?
Joachim Hermisson: Wir sind alle von einem Moment in den anderen in etwas ganz Neues geworfen worden. Für mich gibt es seit der Anfrage der Regierung, diese mit Expertenwissen zu Modellen und Prognosen zu beraten, neben COVID-19 kaum noch ein anderes Thema.

uni:view: Sie haben gemeinsam mit Kollegen ein Expertenpapier und eine Risikoanalyse zu COVID-19 erstellt. Das dient der Regierung als wissenschaftliches Back-up, gleichzeitig sind Sie alle seitdem beratend für die Regierung tätig.
Hermisson: Zunächst möchte ich unseren Beitrag – auch aufgrund vieler Medienberichte – ins richtige Licht rücken: Die wichtigste Maßnahme der Regierung, der allgemeine Lockdown, ist vor unserer Publikation erfolgt. Das ist die wesentlichste Maßnahme gewesen, die die Regierung in Österreich glücklicherweise frühzeitig durchgeführt hat.

Wir kamen dann ins Spiel, als es um die Bewertung der Maßnahmen gegangen ist, konkret um mögliche Lockerungen bzw. Nachschärfungen. Anhand unserer Risikoanalyse haben wir uns ganz klar dafür ausgesprochen, dass man weiterhin nach dem Vorsichtsprinzip vorgehen muss und erst die Daten beobachtet, bevor man überhaupt sagen kann, dass die Maßnahmen wirken.

uni:view: Das ist jetzt über zwei Wochen her. Wie stellt sich die Situation für Sie gegenwärtig dar?
Hermisson: Es ist tatsächlich gelungen, den exponentiellen Anstieg zu drücken und ich traue mich zu sagen, dass wir wohl in Österreich bei einem R0 unter eins liegen. Das heißt: Wir wissen, dass die Bremse, die wir betätigt haben, funktioniert hat.

Auf der anderen Seite zeichnet sich auch ab, dass wir am Anfang der Entwicklung stehen. Bisher hat wahrscheinlich nur etwa ein Prozent der Bevölkerung die Viruserkrankung durchgemacht und das heißt, wenn wir jetzt von der Bremse wieder ganz runtergehen, würde das Szenario von neuem losgehen. In Zahlen ausgedrückt: Würden wir sofort wieder in einen normalen Alltag zurückkehren, könnte die Zahl der Toten noch um zwei Größenordnungen höher liegen.

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So sehe ich das mittelfristig auch für den Herbst. Es schaut derzeit nicht so aus, dass ab September alles wieder normal sein wird. Aber wie viele und welche Maßnahmen wir dann noch brauchen, da sollte man mit Vorhersagen sehr zurückhaltend sein. Die Entwicklung hat uns alle überrascht und wird uns auch weiter überraschen.

uni:view: Stehen Sie den schrittweisen Öffnungen daher skeptisch gegenüber?
Hermisson: Nein, das hat durchaus seine Berechtigung. Man hat sich einen gewissen Spielraum geschaffen und es gibt auch gar keine andere Möglichkeit, als nun zu versuchen, von der angezogenen Bremse wieder etwas runterzugehen. Ein kompletter Lockdown auf unbestimmte Zeit ist keine realistische Möglichkeit. Aber so lange wir keinen geeigneten Impfstoff haben oder wenigstens wirksame Medikamente gegen die klinischen Symptome, sind wir von einer Normalität noch weit entfernt.

Um beim Auto-Vergleich zu bleiben: Der Unterschied ist, dass wir beim Virus die Effekte der Maßnahmen nicht sofort spüren, sondern erst nach ein paar Tagen, einer Woche und im Fall der Todesraten sogar erst nach mehr als zwei Wochen. Daher ist eine unserer Hauptüberlegungen jetzt, wie wir uns möglichst rasch Daten verschaffen können, um eben dieser Verzögerung entgegenzuwirken. Dahingehend beraten wir auch unsere Regierung. Wir benötigen Samples aus der Bevölkerung in sehr viel höherer Zahl und Dichte. 

uni:view: Wie ist das zu bewerkstelligen?
Hermisson: Mit einer höheren Anzahl an Tests und der Einbindung weiterer Labore. Hier können auch die Universitäten einen wichtigen Beitrag leisten. So haben die Universität Wien und das Vienna Biocenter bereits Testing Facilities für PCR-Tests eingerichtet. Hier könnten wir große Stichproben auswerten und konkrete statistische Aussagen treffen.

uni:view: Sie sind Biomathematiker. Worin genau liegt Ihre persönliche Expertise in der Beratertätigkeit?
Hermisson: Einer meiner Forschungsschwerpunkte sind Modellierungen. Ich kenne mich darin aus, wie sensitiv Modelle reagieren, wenn man Parameter verändert, wie zum Beispiel eine Übertragungsrate oder eine Todesrate. Es gibt zum Teil Modellparameter, die enorme Auswirkungen auf die Resultate haben können. Hier sehe ich meine Expertise auch für die Regierung: Wir müssen die Parameter ganz genau kennen und wenn das nicht der Fall ist, dann ist höchste Vorsicht angesagt. Für das politische Handeln ist dann die einzige rationale Option, vorsichtig zu agieren.

Ein Beispiel: Eines der wichtigen Kriterien ist, dass wir versuchen unsere Krankenhauskapazitäten nicht zu überlasten. Österreichweit haben wir eine Kapazität von rund 1.000 Intensivbetten, die für COVID-Patient*innen zur Verfügung stehen würden. Derzeit haben wir eine Auslastung von 250. Das ist aktuell tatsächlich noch ein guter Spielraum, andererseits ist das auch eine Zahl, die zwei Verdoppelungen vom Maximum entfernt ist. Bevor die Maßnahmen ergriffen worden sind, hatten wir Verdoppelungszeiten von zweieinhalb Tagen. Hätten wir also die Maßnahmen nur eine Woche später ergriffen, wären wir wahrscheinlich bereits an die Grenzen dieser Kapazitäten gekommen. Genau das ist auch in ganz vielen Ländern in Europa passiert.

uni:view: Das heißt, wir bleiben tatsächlich auf der Bremse, bis der Impfstoff verfügbar ist?
Hermisson: Letztlich ist es das. Der Impfstoff ist, sobald dieser breit verfügbar für viele Menschen ist, sozusagen die endgültige Lösung. Es wird auf dem Weg dorthin aber noch einige Schritten geben, wie etwa Medikamente. Und nicht zu vergessen unsere wachsende Erfahrung im Umgang mit dem Virus. Sollten zum Beispiel die Zahlen im Herbst wieder steigen, sind wir alle auf die Situation viel besser vorbereitet. Selbst falls es bis dahin noch keine Medikamente geben sollte, können wir auf klinische Best-Practice-Maßnahmen zurückgreifen – und hoffentlich auf gute Daten.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (td)

Joachim Hermisson ist Professor für Mathematik und Biologie in der Forschungsgruppe Biomathematik und an den Max F. Perutz Laboratories. Er verfasste ein Expertenpapier zu COVID-19 gemeinsam mit Mathias Beiglböck (Institut für Mathematik, Universität Wien), Philipp Grohs (Institut für Mathematik, Forschungsplattform Data Science @ Uni Vienna, Universität Wien), Magnus Nordborg (ÖAW) und Walter Schachermayer (Institut für Mathematik, Universität Wien). (© Margit Schmid)