"Das Klima ist nicht irgendein wissenschaftlicher Gegenstand 'da draußen'"

Kennen Sie den Satz "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung"? Für Germanistin Eva Horn ist er Ausdruck dafür, dass wir versuchen, uns von Klima und Wetter abzukapseln. In ihrem Gastbeitrag zur Semesterfrage plädiert die Forscherin für eine Kulturtheorie des Klimas.

Um unser Klima zu "retten", müssen wir erst mal wieder lernen, es wahrzunehmen und zu verstehen. Und zwar nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinne, sondern einem kulturellen. Das mag seltsam klingen, angesichts der Menge an Wissen über Klima und Klimawandel, die wir heute haben. Aber dieses naturwissenschaftliche Wissen vom Klima ist seltsam abstrakt. Das beginnt schon mit der Definition von Klima als "Durchschnittswetter". Im Glossar des IPCC heißt es: "Klima ist die statistische Beschreibung von Mittelwerten und Varianz von relevanten Größen innerhalb von Zeiträumen, die von Monaten bis hin zu tausenden von Jahren reichen können. Diese Größen sind am häufigsten Oberflächenvariablen wie Temperatur, Niederschläge und Wind."

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. Im Sommersemester 2018 lautet sie "Wie retten wir unser Klima?" Die Abschlussveranstaltung dazu fand am Montag, 11. Juni 2018, statt: Unter dem Titel "Herausforderung Klimawandel" hielt der Meteorologe Mojib Latif einen Vortrag am Uni Wien Campus. Zur Nachlese

Globales Klima lokal erleben

Klima als Durchschnittswetter zu fassen ist aber nicht nur historisch relativ neu, sondern widerspricht auch allen menschlichen Erfahrungsformen von Wetter und Klima. Wie lassen sich Durchschnittstemperaturen wahrnehmen? Wo kann man "globales Klima" erleben? Was wir kennen und wofür wir immer dann eine gute Intuition haben, wenn wir lange an einem Ort gelebt haben, ist die Wahrscheinlichkeit bestimmter Wetterereignisse: Frost im Januar in Wien ist erwartbar, im August nicht.

Wir erfahren Klima als das, was einen Ort und einen Zeitpunkt ausmacht: das Klima von Wien oder London, tropisches oder arktisches Klima, das Klima eines Waldes im Vergleich zu urbanen Hitzeinseln. Wir spüren die Qualität von Lüften – stickig oder frisch, kalt, feucht, warm, staubig, windig oder künstlich getrocknet und gekühlt. Unsere Körper kennen die Zyklen der Jahreszeiten an einem vertrauten Ort. Wir werden im Winter müde und verstimmt, im Frühling kommt Energie zurück, im Sommer eine schwebende Euphorie. Ein saisonales Glück, das allerdings nur die BewohnerInnen gemäßigter Breiten empfinden können. In tropischen Ländern dagegen gilt kühl klimatisierte Luft als Luxus, auf den niemand freiwillig verzichten würde. Die Medizin nennt diese Zyklen der Jahreszeiten-Stimmungen SAD (seasonal affective disorder), vulgo: Winterdepression, und erklärt sie mit Licht- und Bewegungsmangel. Dabei ist es ein Körper-Wissen von den Orten, an denen wir leben, ein Sensorium für die Zyklen des Klimas, das wir zunehmend verlieren.

Historische Traditionen: Von Hippokrates …

Ein solches Erfahrungs- und Wahrnehmungswissen vom Klima ist durchaus keine Öko-Esoterik, sondern hat eine lange und reichhaltige historische Tradition. Sie beginnt mit einem antiken Klima-Begriff, der eigentlich ein rein geographischer Terminus war: das griechische Wort κλίμα bezeichnet einen Ort nach dem Neigungswinkel der Sonne, d.h. seinen Breitengrad. Dieser Neigungswinkel bestimmt nicht nur die Länge der Tage im Lauf der Jahreszeiten, sondern auch die Temperatur eines Landstrichs. Klima ist so von Anfang an ein Begriff der Unterschiede und Beziehungen: Er erklärt die landschaftlichen, klimatischen und gesundheitlichen Differenzen zwischen Orten auf der Erde, aber auch die Beziehungen der EinwohnerInnen zu ihrer jeweiligen Umwelt. Ein Hippokrates zugeschriebener Traktat über "Luft, Wasser und Orte" versteht die körperliche Verfassung von Bevölkerungen als Produkt der unterschiedlichen Landschaften, die sie bewohnen – von den vorherrschenden Winden über die Qualität der Luft, die Art des Wassers, der Böden und Nahrungsquellen.

… bis Johann Gottlieb Herder

Aus dieser hippokratischen Beziehung zwischen Menschen, Landschaften und lokalen Klimata erwächst eine Theorietradition, die Mentalitäten und Körperbau, aber auch Religionen und Staatsformen im Hinblick auf die klimatischen Eigenschaften eines Ortes erklärt. Die Philosophen der Aufklärung, allen voran Montesquieu, haben beispielsweise gefragt, wie sich bestimmte kulturelle Einrichtungen – von der Religion bis zur Regierungsform – als Reaktionen auf die Macht von Hitze und Kälte erklären lassen. Sie verstanden Kultur als Aushandlungsprozess mit den prägenden Kräften der Natur, aber auch als Veränderung dieser Natur. Johann Gottlieb Herder bringt das Ende des 18. Jahrhunderts auf die schöne Formel: "Das Klima zwinget nicht, es neiget." Menschliche Kultur wird hier nicht als Befreiung vom Einfluss der Natur oder als deren Beherrschung verstanden. Natur- und Kulturprozesse, so Herder, sind rückgekoppelt. Das Klima beeinflusst den Menschen, der Mensch das Klima – und damit sich selbst.

Moderne Befreiung von den Einflüssen der Natur

In der Moderne haben wir nun aber gelernt, Kulturen von Naturbedingungen scharf zu trennen. Kultur wird als rein menschliche Konstruktion verstanden, als Befreiung von den Einflüssen der Natur – oder als ihre Beherrschung. Das wird im heutigen Umgang mit Natur – gerade auch mit ihren latenten, unsichtbaren Vorgängen – zur Hypothek. Wir externalisieren alle Naturprozesse – und so ist nun auch das Klima etwas, um das sich eben KlimawissenschafterInnen oder PolitikerInnen kümmern sollen, am besten im globalen Maßstab.

Gibt es klimatische Intelligenz?

Gerade angesichts dieser fatalen Externalisierung von Klima – wenn nicht von Natur überhaupt – ist es wichtig, ein genaueres Verständnis dafür zu entwickeln, wie Kulturen sich in ihren klimatischen Eigenheiten einrichten und eingerichtet haben. Das beginnt mit den vielen Wörtern der Inuit für Schnee bis hin zu Alltagsgegenständen wie Fächern, Sonnenschirmen oder auch der in den wärmeren Teilen Europas üblichen Siesta. Es gibt eine unendliche Fülle von literarischen Texten, die Wetter und Jahreszeiten mit menschlichen Gefühlen und Stimmungen in Verbindung bringen. Könnte es nicht sein, dass es so etwas gibt wie eine klimatische Intelligenz, die sich in lokalen Kulturtechniken, in Kleidung, Geschichten und Gewohnheiten niederschlägt?

Von der Klima-Wahrnehmung …

Ähnlich wie der Begriff der "Atmosphäre", der ja auch soziale oder affektive Stimmungen bezeichnet, wäre Klima aus einer solchen Perspektive durchaus nicht einfach als meteorologisches "Da-Draussen" zu fassen, sondern als etwas, das unsere Körpererfahrungen, Zeitwahrnehmung und emotionalen Stimmungen tönt und unser soziales Leben durchdringt.

Der naturwissenschaftlichen Klimaforschung muss eine Kulturtheorie und Kulturgeschichte des Klimas an die Seite gestellt werden, die nicht nur beschreibt, wie Kulturen und historische Epochen sich – auf sehr unterschiedliche Weise – im Klima eingerichtet und welche Bedeutungen sie atmosphärischen Phänomenen gegeben haben. Sie muss auch zeigen, wie wir Klima heute – in Zeiten des Klimawandels – thematisieren, empfinden und darstellen können. Was es bislang kaum gibt – mit winzigen Ausnahmen bei Philosophen wie Herder, Watsuji, oder Sloterdijk – sind Überlegungen, wie Klima von Individuen und Gesellschaften wahrgenommen wird, welches Sensorium und Vokabular wir für Atmosphären haben.

… zu einer Kulturtheorie des Klimas

Was eine Kulturtheorie des Klimas deutlich machen kann, sind nicht nur die vielfältigen Formen, in denen historische Kulturen ein Sensorium, Bilder und Sprache für Klima gefunden haben. Individuelle Stimmungen, kollektive Lebensrhythmen, Naturverhältnisse, Architekturen – all dies wurde einst nicht nur als Produkt menschlicher Kultur, sondern als Auseinandersetzung mit den Zuständen der Natur gefasst.

Was eine Kulturtheorie des Klimas aber auch zeigt, ist das Ausmaß, mit dem sich heutige Gesellschaften von Klima und Wetter abkapseln. Der Satz "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung" legt Zeugnis davon ab. Shoppingmalls, allgegenwärtiges "Air Conditioning" und die zunehmende Unfähigkeit, etwas stärkere Kälte oder Hitze zu ertragen, sind ihre unmittelbaren Produkte. Das Klima zu "retten", würde bedeuten, zu allererst einmal zu verstehen, dass wir als Individuen und Gesellschaften mitten drin sind im Klima, dass es ein Medium unseres Lebens und Zusammenlebens ist, nicht irgendein wissenschaftlicher Gegenstand "da draußen".

Eva Horn ist seit Februar 2009 Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Poltisches Geheimnis und Literatur der Moderne, Katastrophennarrative, Fiktion und Zukunftswissen sowie Medientheorie. Aktuell forscht sie u.a. zur Literatur- und Konzeptgeschichte des Klimas. (© Universität Wien)