Corona: Chance und Herausforderung für Familien

Frau und Kind sitzen auf einem Fensterbrett in der Wohnung

Im Home Office kann ein Elternteil zwar anwesend, aber dennoch nicht verfügbar sein. "Gerade Kleinkinder verstehen das aber oft schwer", so die Psychologin Sabine Buchebner-Ferstl von der Uni Wien. Im Gastbeitrag erklärt sie, warum Nähe und Distanz in Zeiten von Corona Herausforderung und Chance sind.

In jeder Beziehung ist es wichtig, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu etablieren. Dies gilt ganz besonders für die Beziehungen innerhalb der Familie. Das Bedürfnis nach Kontakt und Verbundenheit einerseits und jenes nach Abgrenzung und Autonomie andererseits stehen dabei nicht im Widerspruch, sondern bedingen einander.

Die aktuelle Situation ist mit tiefgreifendem Einfluss auf die Nähe-Distanz-Regulation verbunden und macht eine Neudefinition auf vielen Ebenen nötig. Erschwerend kommt hinzu, dass dieses Ereignis nicht vorhersehbar war, was eine langsame Gewöhnung an die veränderten Lebensumstände unmöglich gemacht hat. 

Die physische und die emotionale Komponente von Nähe

Der Begriff der Nähe beinhaltet eine physische und eine emotionale Komponente. Die physische Komponente der Nähe erfordert in der aktuellen Situation vorwiegend Anpassungsleistungen und ist mit einem relativ geringen Handlungsspielraum verbunden. Auf der einen Seite geht es um die Vermeidung von räumlicher Nähe, zum Beispiel zu den Großeltern, unter dem Aspekt der Ansteckungsgefahr. Auf der anderen Seite verbringen Familien ungewohnt viel Zeit miteinander. Und das in einem sehr begrenzten räumlichen Umfeld.

Demgegenüber ist die emotionale Komponente der Nähe von äußeren Umständen zwar mitbeeinflusst, jedoch – bei Erwachsenen und älteren Kindern – grundsätzlich nicht an physische Präsenz gebunden, sondern kognitiv repräsentiert. In der Sozialpsychologie wird "Nähe" als relativ stabiles Beziehungsmerkmal verstanden, das sich auf persönliche Kommunikation und positive Emotionen gründet.

Unter dem Diktat der erzwungenen physischen Distanz tun viele Menschen intuitiv das Richtige, sich nämlich der emotionalen Nähe zu Familie und Freunden zu versichern und diese zu stärken, sei dies über Telefongespräche, WhatsApp-Nachrichten oder Skype-Kontakte. Positive Emotionen werden nicht zuletzt in Form eines Sich-Sorgens und Sich-Kümmerns transportiert, welches dem Gegenüber vermittelt, dass er oder sie wichtig ist und dass sein oder ihr Wohlergehen am Herzen liegt: "Oma, ich schau auf dich!" In diesem Sinne beinhaltet jene erzwungene physische Distanz das Potenzial, Familienmitglieder sogar näher zusammenzubringen.   

Umgekehrt vermag die emotionale Nähe innerhalb der Familie im Idealfall auch von der gleichsam verordneten physischen Nähe zu profitieren: Eltern und Kinder verbringen wesentlich mehr Zeit miteinander, welche für Gespräche und gemeinsame (Indoor-)Aktivitäten wie Gesellschaftsspiele genutzt werden kann.

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Nähe-Distanz-Balance unter erschwerten Bedingungen

Dennoch greift die ausschließlich positive Sichtweise selbstverständlich zu kurz. So kann etwa räumliche Beengtheit, die wenig Rückzugsmöglichkeiten erlaubt, als ein Risikofaktor für die erfolgreiche Neudefinition von Nähe und Distanz identifiziert werden. Wird die berufliche Tätigkeit im Rahmen des Home Office weitergeführt, so stellt sich das persönliche Bedürfnis nach Abgrenzung gleichzeitig als von außen vorgegebene Notwendigkeit dar. Gerade bei Kleinkindern fällt es schwer zu vermitteln, dass ein Elternteil zwar anwesend, aber dennoch nicht verfügbar ist, da physische und emotionale Nähe in diesem Alter noch eine weitgehende Einheit bilden. Wo immer möglich sollten andere Personen, etwa der andere Elternteil, hier unterstützend agieren.

Faktoren wie Ängste, Überforderung und finanzielle Sorgen bleiben zumeist auch nicht ohne Einfluss auf die Beziehungsebene. Für betroffene Eltern stellt es eine besondere Herausforderung dar, den Kindern dennoch die gerade in dieser Situation so dringend benötigte emotionale Nähe zu vermitteln. Dies gilt besonders für alleinerziehende Elternteile, die in dieser Situation rasch an ihre Grenzen gelangen.

Im Rahmen der Partnerschaft kann sich die erzwungene physische Nähe wiederum in Form von Konflikten oder gar Gewalt erweisen, wenn dadurch eine bestehende emotionale Distanz aufgedeckt wird.

Umso wichtiger ist es, Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmend, wenn das innerfamiliäre Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz aus den Fugen gerät und die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern belastet sind. Über Anlaufstellen informiert beispielsweise die Website des Sozialministeriums.

Sabine Buchebner-Ferstl

Sabine Buchebner-Ferstl ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Österreichischen Institut für Familienforschung an der Universität Wien (ÖIF). (© privat)