Buchtipp des Monats von Franz X. Eder
| 14. Februar 2019In seiner jüngsten Publikation beschäftigt sich der Sozialhistoriker Franz X. Eder mit der Geschichte der Sexualität. Im Mittelpunkt stehen dabei die "alltäglichen" sexuellen Praktiken und Einstellungen. Einen queeren Buchtipp für unsere LeserInnen hat Eder auch parat.
uni:view: Aktuell ist Ihre Publikation "Eros, Wollust, Sünde. Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit" erschienen. Was möchten Sie anhand der Geschichte der Sexualität in Europa aufzeigen?
Franz X. Eder: Ich möchte mit meiner Studie die sozialhistorische Sicht auf die Sexualität stärken, die durch die diskursorientierte Sexualitätsforschung und -geschichte in den Hintergrund geraten ist. Deshalb räume ich dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich sexuelle Begehrens- und Handlungsformen entwickelten, und wirtschaftlichen sowie politischen Aspekten deutlich mehr Platz ein als dies die bisherige Forschung getan hat.
Neben den "klassischen" Themen der Sexualitätsgeschichte – wie Prostitution, Pornografie und gleichgeschlechtliche Handlungen – stehen in meinem Buch die "normalen" und "alltäglichen" sexuellen Praktiken und Einstellungen im Vordergrund. Unter anderem geht es um die Funktion des Sexuellen in Erziehung und Sozialisation, dessen Bedeutung für die Ausprägung des Selbst- und Fremdbildes der Geschlechter und den hohen Stellenwert des Sexuallebens für die ehelichen Beziehungen. Dabei zeigt sich, dass es auch schon in früheren Jahrhunderten in Europa zahlreiche gemeinsame, aber auch abweichende Einstellungen zur Sexualität gab. Die Praktiken des sexuellen Handelns glichen sich oft mehr als man dies heute annehmen würde.
uni:view: Landläufig hat man den Eindruck, dass Sexualität in der Antike freizügiger war als in der Frühen Neuzeit. Ist dem tatsächlich so?
Eder: Ob man sexuell "freizügig" agieren konnte, hing in den antiken bis frühneuzeitlichen Gesellschaften letztlich davon ab, aus welcher Schicht bzw. Gruppe man kam und damit abhängig war von der jeweiligen moralischen und strafrechtlichen Bewertung devianter Sexualhandlungen. Zwischen Männern und Frauen herrschten hier ebenso große Unterschiede wie zwischen den Angehörigen verschiedener sozialer Schichten. Wobei man bei Männern meist den vorehelichen und außerehelichen Geschlechtsverkehr tolerierte oder wenig sanktionierte, während man dies Frauen generell untersagte.
In allen historischen Gesellschaften Europas versuchte man die produktiven, nützlichen und erfreulichen Seiten des Sexuellen zu befördern und die gefährlichen, schädlichen und erschreckenden in Schach zu halten. Die Religionen erkannten ebenfalls das große Moralisierungs- und Disziplinierungspotenzial der Sexualität und versuchten, in die intime Lebenswelt der historischen AkteurInnen einzudringen. Nicht übersehen sollte man dabei, dass das eheliche Sexualleben mit Fertilität, Familie und sozialer Ordnung und damit mit elementaren Bausteinen der europäischen Gesellschaften einherging und deshalb insgesamt sehr positiv bewertet wurde.
uni:view: Prostitution gilt als das älteste Gewerbe der Welt. Inwieweit hat sie sich im Laufe der Zeit gewandelt?
Eder: Über die Epochen hinweg zeigt sich, dass es kaum möglich ist, von "der" Prostitution zu sprechen. Die Personen und Gruppen, die für sexuelle Dienste zur Verfügung standen bzw. sich für diese hergeben mussten – darunter deutlich mehr Frauen als Männer –, waren äußerst heterogen. Zwischen Bordellsklaven und -sklavinnen, weiblichen und männlichen Straßenprostituierten, Hetären, Kurtisanen und Konkubinen existierten gravierende Differenzen in der Bindung an Freier, "Geliebte" und "Lebensgefährten" und die Abhängigkeit von ihnen.
Der schnelle, anonyme und billige "Sex" im Lupanar Pompejis hatte wenig gemein mit den ebenfalls "erkauften" nicht-ehelichen Sexualakten in längerfristigen Beziehungen etwa der Oberschichten. Von der Antike bis in die Frühe Neuzeit versuchte man jedenfalls, Bordelle, Straßenstrich und verdeckte Hurerei zu regulieren, zu verwalten und ganz zu verbieten. Allerdings war man wenig erfolgreich, weil sich immer ein "Hintertürchen" für den Fortbestand des "gewerblichen" Sex' fand und die Grenzen zwischen legitimen und prostitutiven Verhalten schwerlich gezogen werden konnten. So gesehen lässt sich kaum ein Wandel in der Prostitution feststellen.
uni:view: Wie gestaltete sich gleichgeschlechtliche Sexualität in der Vormoderne?
Eder: Gleichgeschlechtliche Sexualität ist wohl jenes Feld der Sexualitätsgeschichte, über das am heftigsten diskutiert wurde und wird. Die frühere Meistererzählung lautete ungefähr so: In der Antike waren sexuelle Mann-Mann- und Frau-Frau-Kontakte problemlos möglich, sie gehörten in der griechischen Pädophilie (Paiderastia) sogar zu den Grundfesten der Kultur. Mit dem Christentum mutierten gleichgeschlechtliche Sexualkontakte zur widernatürlichen Unzucht bzw. "Sodomie", weshalb im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit tausende Personen auf dem Scheiterhaufen endeten.
Neuere Forschungen haben allerdings eine andere Sicht auf vorchristliche Gesellschaften ergeben: Auch dort waren homosexuelle Kontakte von sozialem Gefälle, Ausbildungs- oder Abhängigkeitsverhältnissen, teils von Prostitution und oft vom Vorwurf der Devianz oder zumindest schlechter Nachrede geprägt – sie standen allerdings meist nicht unter Strafe. Ein "Eldorado" für Schwule und Lesben wird man auch in der Antike vergeblich suchen.
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:
1 x "Eros, Wollust, Sünde. Sexualität in Europa von der Antike bis in die Frühe Neuzeit" von Franz X. Eder
1 x "Queer: Eine illustrierte Geschichte" von Meg-John Barker mit Illustrationen von Julia Scheele
uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Eder: "Queer: Eine illustrierte Geschichte" von Meg-John Barker mit Illustrationen von Julia Scheele. Ich habe den Band zum Geburtstag geschenkt bekommen und zuerst für einen schlechten Scherz gehalten: Wie kann man ein so kompliziertes Thema wie die Queer-Theorie in knappen Texten und zeitgeistigen Bilderserien transportieren? Die Lektüre hat mich eines Besseren belehrt.
uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Eder: Poly- und Kinknormativität, queere Communities, von den Rändern her denken, Identitäten bewohnen – wenn einem Schlagworte und Phrasen wie diese unbekannt sind, dann gibt es keine kürzeren Weg zu ihrem Verständnis als dieses Buch. Wer sich in Queer zuhause fühlt, wird ebenfalls davon profitieren, denn es führt an die kritischen Stellen dieses Denkgebäudes heran, etwa die neu entstandene queere Normativität. All dies mit wunderbaren Illustrationen und Porträtzeichnungen bekannter und weniger bekannter Protagonistinnen.
uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Eder: Die Einsicht, dass man komplexe Theorie/geschichte mit Augenzwinkern, einem Schuss Ironie und Selbstkritik präsentieren kann und dabei nicht vom Katheder herab dozieren muss. (td)
Franz X. Eder ist Professor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Vizedekan der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Geschichte der Familie und Arbeitsorganisation, Konsumgeschichte, Sexualitätsgeschichte und Diskursanalyse.