Buchtipp des Monats von Birgit Sauer und Otto Penz
| 09. September 2016Der Gefühlshaushalt ist von wirtschaftlichen Werten wie Wettbewerb, Konkurrenz und Erfolg bestimmt. Inwieweit das unsere Dienstleistungsgesellschaft beeinflusst, untersuchen Politikwissenschafterin Birgit Sauer und Soziologe Otto Penz in ihrem aktuellen Buch "Affektives Kapital".
uni:view: In Ihrer kürzlich erschienenen Publikation "Affektives Kapital. Die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben" zeigen Sie auf, wie im Wandel von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft Gefühle zu entscheidenden beruflichen Kompetenzen werden. Können Sie kurz erläutern warum und wie Gefühle heute der Vermarktlichung unterliegen?
Birgit Sauer und Otto Penz: Es ist in der kapitalistischen Ökonomie nicht neu, dass Gefühle eingesetzt werden, um Waren oder Dienstleistungen effektiver zu verkaufen. Freundlichkeit und Empathie sollen die Kundschaft überzeugen, dass sie ein Produkt oder einen Service brauchen. Die US-amerikanische Soziologin Arlie Hochschild hat deshalb in einer Studie aus den 1970er-Jahren bereits davon gesprochen, dass "emotionale Arbeit" ein zentrales Kennzeichen von Dienstleistungsgesellschaften ist – auch von kapitalistischer Ausbeutung in diesen Gesellschaften.
Unter den heutigen Bedingungen zeitlich und räumlich entgrenzter Arbeit, von Teamarbeit und vermeintlich flachen Hierarchien, aber auch zunehmend prekären Arbeitsverhältnissen wird in nahezu allen Bereichen der Einsatz der "ganzen Person" für die Arbeit – auch ihrer Gefühle und Affekte – gleichsam immer und überall verlangt. Mit dem Begriff des "affektiven Selbstunternehmertums" wollen wir deutlich machen, dass ein neuer Menschentyp am Entstehen ist, dem es selbstverständlich wird, dass sein Leben wie auch sein Gefühlshaushalt von wirtschaftlichen Werten wie Wettbewerb, Konkurrenz und Erfolg bestimmt sind.
uni:view: Inwieweit trägt die Fremd- und Selbstkontrolle von Affekten zu einer unternehmerischen Haltung der Arbeitskräfte bei?
Sauer und Penz: In der neuen Arbeitswelt westlicher Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften wird das Affektmanagement zu einem zentralen Skill. Nicht nur ArbeitgeberInnen verlangen den bewussten und pointierten Einsatz von Gefühlen im Sinne der Gewinnsteigerung ihres Unternehmens, manche Unternehmen bieten sogar Kurse für das Erlernen eines affektiven Umgangs mit der Kundschaft. Doch diese Fremdkontrolle wird ergänzt durch Formen der Selbststeuerung oder Selbstkontrolle der Menschen: Der Einsatz von Gefühlen und Affekten für ein erfolgreiches Bestehen auf dem Arbeitsmarkt ist den Menschen heutzutage zur zweiten Natur geworden. Subjektbildung beruht also auf einem unternehmerisch orientierten Leben, das Gefühle als einen wichtigen Bestandteil begreift.
uni:view: Geschlechtsspezifische Prägungen sind ebenso Thema in Ihrem Buch: Führt die Mobilisierung von Affekten zum Verschwinden der Geschlechterdifferenz?
Sauer und Penz: Gefühle werden in westlich-liberalen Kulturen traditionell mit Weiblichkeit verknüpft. Dies ist freilich eine verkürzte Wahrnehmungsweise, die Männern keine Emotionen attestiert bzw. traditionell männlich konnotierte Emotionen wie Aggressivität oder Wut ausblendet. Allerdings umfasst das affektive Kapital der Dienstleistungsgesellschaft eher weiblich konnotierte Affekte wie Empathie, Zuneigung, Freundlichkeit und Höflichkeit. Da nun auch Männer diese Gefühle im Beruf entwickeln und einsetzen müssen, könnte man davon ausgehen, dass das Arbeitsleben "feminisiert" wird und Geschlechterunterschiede verschwinden. Unsere Forschungen bei der österreichischen Post haben aber gezeigt, dass affektive Arbeit dazu führt, Geschlechterhierarchien zwischen Frauen und Männern auf neuartige Weise wieder herzustellen. Beispielsweise betrachten Männer ihre affektive Arbeit als neue Qualifikation, die auch anerkannt und honoriert werden soll, während von Frauen angenommen wird, dass sie Gefühlsarbeit natürlicherweise leisten.
uni:view: Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen in einer Dienstleistungsgesellschaft?
Sauer und Penz: Unsere Studie zeigt, dass die Steuerung von Affekten ein Element einer Intensivierung, aber auch Prekarisierung von Erwerbsarbeit in heutigen Gesellschaften ist. Lebensentwürfe werden zunehmend unsicherer, auch dies bedarf eines neuartigen Umgangs mit den eigenen Affekten. "Affektives Kapital" ist also doppelgesichtig: Etwas, das die Menschen erwerben und mehren können, aber zugleich auch eine Konstellation, die sie verunsichert und ausbeutbar macht. Unter diesen Bedingungen ein "gutes Leben" leben zu können, ist emotional anspruchsvoll – und westliche Gesellschaften haben noch keine Modi gefunden, wie dieses affektive Kapital so genutzt werden kann, dass es zur Grundlage von Solidarität und gemeinsamem Handeln werden kann. Unsicherheit, Angst und Furcht scheinen derzeit leichter mobilisierbare Affekte zu sein.
Das Gewinnspiel ist bereits verlost. Doch die gute Nachricht: In der Universitätsbibliothek stehen die Bücher interessierten LeserInnen zur Verfügung:
1x "Affektives Kapital. Die Ökonomisierung der Gefühle im Arbeitsleben" von Otto Penz und Birgit Sauer.
1x "Gehen, ging, gegangen" von Jenny Erpenbeck
uni:view: Welches Buch empfehlen Sie unseren LeserInnen?
Sauer und Penz: Wir empfehlen den Roman von Jenny Erpenbeck "Gehen, ging, gegangen".
uni:view: Einige Gedanken, die Ihnen spontan zu diesem Buch einfallen?
Sauer und Penz: Darin geht es um einen emeritierten Professor in Berlin, der nach dem Tod seiner Frau in eine Art Wartezustand versetzt ist. Er muss sein Leben in der Pension, als Witwer neu erfinden, sein altes Leben überdenken. Er tut dies, indem er sich für Geflüchtete einsetzt, die in Berlin einen öffentlichen Platz besetzt hatten und nach der Räumung des Platzes in Unterkünfte in der ganzen Stadt verteilt wurden. Der Roman schildert die Fremdheit, das Unverständnis, aber auch Empathie, Neugierde und Ängstlichkeit – schließlich auch den Raum der Reflexion, der sich in den neuen Erfahrungen der Begegnung auftut. Warten und Untätigkeit sowie Flucht kennzeichnen nicht nur das Leben der Refugees, sondern auch das des emeritierten Professors.
uni:view: Sie haben den letzten Satz gelesen, schlagen das Buch zu. Was bleibt?
Sauer und Penz: "Ja, im Prinzip genauso wie auf dem Meer." Dieser letzte Satz macht möglicherweise das Prekärsein allen Lebens deutlich, auch des Lebens in wohlhabenden europäischen Gesellschaften. Für uns ist er Ausgangspunkt darüber nachzudenken, wie Solidarität und ein gutes Zusammenleben in Europa gestaltbar sein können. (td)
Univ.-Prof. Dr. Birgit Sauer ist am Institut für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Governance und Geschlecht, Politik der Geschlechterverhältnisse und Politik und Emotionen. Mag. Dr. Otto Penz ist am Institut für Soziologie an der Fakultät für Sozialwissenschaften tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen u.a. Soziologie des Körpers, der Schönheit und der Emotionen, Arbeitssoziologie und Politische Soziologie.