"Auch Emotionen können sich viral verbreiten"

Verschränkte Hände

Wieso "hamstern" Menschen vermehrt, obwohl die Lieferketten funktionieren? Und kann eine Krise die Solidarität in der Gesellschaft steigern? Sozialpsychologe Arnd Florack im Interview über "sozialen Einfluss", positive und negative Effekte der Corona-Pandemie.

uni:view: Soziale Kontakte verringern, Reisen einschränken. Wie erklären Sie sich, dass die Bereitschaft, den eigenen Lebensstil anzupassen, bei den meisten Menschen jetzt sehr hoch ist – im Gegensatz zu Themen wie dem Klimawandel? 
Arnd Florack: Diese Frage ist interessant, weil man einen Wechsel in den Einstellungen und Verhaltensweisen beobachten kann. Die Informationslage war vor zwei, drei Wochen fast identisch. Entscheidend ist, dass viele Menschen jetzt eine Bedrohung sehen, die psychologisch und von der Entfernung näher ist. Denken wir nur an die Lage in Italien. Dazu kommt, dass auch Expert*innen offen ansprechen, auf welche Fragen sie noch keine Antwort haben. Diese Transparenz ist gut. Sie ist die Basis für Vertrauen in die verantwortlichen Personen.

Die schwer einschätzbare Situation bedeutet aber auch, dass die Zuversicht sinkt, und das ist für uns ein Stoppsignal. Menschen kommen in einen Präventionsfokus. Sie halten inne, versuchen die Situation einzuschätzen und überlegen sich weitere Handlungsschritte. Beobachtet man Verhaltensweisen bei anderen gehäuft, fängt man an, sich danach zu richten. So entsteht "sozialer Einfluss" – die Mitmenschen werden zur Informationsquelle. Sozialer Einfluss wirkt sich einerseits auf das Verhalten aus, auch auf solches, das nicht sinnvoll ist, und er führt zur Ausbreitung von Emotionen. Denn nicht nur ein Virus kann sich schnell übertragen, auch Emotionen können sich "viral verbreiten". 

uni:view: Stichwort Hamsterkäufe. Viele Menschen kaufen gerade Lebensmittel auf Vorrat, teilweise weit über offiziell empfohlene Mengen hinaus. Erstaunt Sie das? 
Florack: Das erstaunt mich nicht, aber ich erachte es nicht für sinnvoll. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen im Bereich des Gesundheitssystems, aber nicht bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Das Nadelöhr ist das Gesundheitssystem. Die Plätze in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen sind begrenzt. Einige Leute fangen an einzukaufen, weil dies einfach umzusetzen ist. Dabei wäre es sinnvoll, gerade so viel einzulagern, dass man im Falle von Krankheit ein paar Tage nicht einkaufen gehen muss. Denn das ist eigentlich der Punkt: Man sollte im Krankheitsfall nicht aus dem Haus gehen, um die anderen nicht anzustecken.

Blick in den Supermarkt

Wissenschaftlich lassen sich die Hamsterkäufe durch Unsicherheit und die Wirkung des "sozialen Einflusses" erklären, so Florack. Es funktioniert wie ein Schneeball-Effekt. Einige wenige Personen fangen an, vermehrt einzukaufen. Dann berichtet jemand darüber oder macht vielleicht ein Foto von einem leeren Regal. Wenn Menschen solche Informationen bekommen, denken sie, "die Anderen greifen zu, die Güter werden knapp". "Wahrgenommene Verknappung ist in unserer aktuellen Lage aber eine Illusion, da sie auf selektiven Berichten oder Eindrücken basiert", so der Sozialpsychologe. (© Pexels/Oleg Magni)

uni:view: Welche Verantwortung tragen die Medien aus Ihrer Sicht denn in dieser Pandemie?
Florack: Eine sehr große, weil sich die Menschen im Augenblick sehr stark durch die klassischen Medien informieren. Ich persönlich sehe aber sehr viele gute Ansätze und Beispiele in der Berichterstattung. Gerade bei der Thematik der Hamsterkäufe ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Lieferketten funktionieren. Und das passiert auch. Zudem gibt es viele Berichte, die deutlich machen, welche Erkenntnisse vorliegen und welche nicht. Viele Menschen machen sich selbstverständlich Gedanken, ob sie oder ihre Angehörigen bald selbst betroffen sein werden.

Daher auch der Fokus auf die eigene Versorgung mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln, der in Hamsterkäufen sichtbar wird. Wichtig ist aber im Augenblick nicht die Perspektive auf die einzelnen Personen, sondern der Blick auf die Bevölkerung insgesamt. Wir sollten uns nicht anstecken und den Virus nicht verbreiten, damit das Gesundheitssystem die sehr schwer erkrankten Menschen gut versorgen kann. Genau dazu müssen die Menschen beitragen. Wenn man medial Hysterie verbreitet, ist nichts gewonnen. Wir sollten alle gut schlafen, nicht ständig gestresst sein, wir brauchen ja unser Immunsystem.

uni:view: Jetzt gerade werden Viele in Quarantäne geschickt, die im Verdacht einer Infektion stehen, auch wenn sie selbst vielleicht keine Auswirkungen spüren. Wie geht man mit dieser Unsicherheit in der Isolation um? 
Florack: Auch hier werden wir einen Wechsel erleben. Aktuell ist die Quarantäne eine unsichere Situation. In zwei Wochen wird das vielleicht umgekehrt sein, dann sagt man: "Ich bin auch in Quarantäne." Dies wünschen wir uns nicht. Aber wenn man nicht alleine betroffen ist, teilt man das Leid. In der Quarantäne kommt etwas zu tragen, das wir aus der Sozialpsychologie gut kennen: Soziale Kontakte sind für Menschen gerade in schwierigen Situationen sehr wichtig. Glücklicherweise werden diese in Quarantäne nicht vollständig abgeschnitten: Man kann noch telefonieren, Nachrichten verschicken und soziale Medien nutzen.

Eine Erkrankung ist tatsächlich auch von den medizinischen Konsequenzen für Personen schwerwiegender, die keine guten sozialen Kontakte haben. Dabei ist die Zahl der Kontakte nicht wichtig. Schon eine vertraute Person hat begünstigende Einflüsse. Problematisch ist nun, dass in unserer Gesellschaft doch eine durchaus beachtliche Zahl von Menschen vereinsamt sind. Dies trifft insbesondere oft ältere Menschen. Ohne soziale Kontakte ist eine Quarantäne-Situation ohne jeden Zweifel stressig. Betroffene Personen müssen sich zum Beispiel überlegen, wie sie an Lebensmittel kommen.

uni:view: In den sozialen Netzwerken kursieren gerade Zettel, auf denen Menschen ihren älteren Nachbar*innen Hilfe bei Einkäufen etc. anbieten. Kann so eine Pandemie die Solidarität in der Gesellschaft verstärken?  
Florack: Ich glaube, dass es in solchen kritischen Situationen positive und negative Effekte auf das Zusammenleben gibt. Eine positive Nebenwirkung der aktuell erlebten Krise ist zunächst, dass wir weniger nach materiellen Luxusgütern streben. Wir werden darauf aufmerksam, wie wichtig die Grundlagen des Lebens wie Nahrung oder Gesundheit sind. In dieser Hinsicht sind wir alle gleich. Man spürt in diesen Situationen, dass der Zusammenhalt durchaus steigen kann, dass Menschen sich gut austauschen und gegenseitig helfen. Das ist eine Stärke der menschlichen Gesellschaft.

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uni:view: Und was wären negative Effekte? 
Florack: Ich habe eingangs den Präventionsfokus erwähnt. Der kann dazu führen, dass man stärker auf eigene Werte, die eigene Kultur, die eigene Gruppe und Familie fokussiert. Evolutionär geht es um das Überleben der eigenen Gene. Aus der Unsicherheit heraus baut man eine Art "cultural anxiety buffer" auf, also Puffersysteme, die uns vor dem Erleben der existentiellen Bedrohung schützen. Oder einfach gesagt: Man kann beobachten, dass sich Menschen weniger positiv gegenüber Fremdgruppenmitgliedern verhalten.

uni:view: Gab es aus psychologischer Sicht schon einmal eine vergleichbare Situation? 
Florack: Psychologisch gesehen gibt es ständig Situationen der Verunsicherung. Ähnliche Situationen der Verunsicherung, wenn auch weniger schwerwiegend, war nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 zu beobachten. Wenn man Jahrhunderte zurückblickt, dann gab es die Pest oder andere Erkrankungen, die sehr bedrohlich für das Überleben waren. Das heißt, wir Menschen sind es leider gewohnt mit Krisen umzugehen, und wir haben ein gutes psychologisches Immunsystem im Umgang mit schwierigen Situationen entwickelt. Wir können Krisen psychologisch gut bewältigen, solange sie nicht dauerhaft sind und kein Gefühl des Kontrollverlustes entsteht. Sollte zum Beispiel ein effektiver Impfstoff zur Verfügung stehen, werden Menschen ihre Zuversicht zurückerlangen.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (sn)

Arnd Florack

Arnd Florack ist Professor für angewandte Sozialpsychologie und Konsumentenverhaltensforschung am Institut für Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpsychologie der Universität Wien. (© Barbara Mair)