Europa, wir müssen reden. Podiumsdiskussion zur Semesterfrage

"Europa steckt in einer schwierigen Phase", so die Diagnose von Bundeskanzler a.D. Franz Vranitzky bei der Podiumsdiskussion zur Semesterfrage im Audimax der Universität Wien. Das Thema Europa sorgt für Diskussionsbedarf, doch am Ende sind sich alle einig: Für Europa lohnt es sich zu kämpfen.

Die heurige Semesterfrage kommt antizyklisch daher: Während anhaltende Krisen und wiederkehrende Konflikte die EU in Frage stellen, diskutieren WissenschafterInnen und Studierende der Universität Wien darüber, was Europa eint. Im Laufe des Wintersemesters 2018/19 sind Interviews, Podcasts und Videos im uni:view Magazin und im Blog der Universität Wien sowie Kommentare und Q&A-Artikel von WissenschafterInnen der Universität Wien auf "derStandard.at" entstanden.

Die Abschlussveranstaltung zur Semesterfrage am 15. Jänner 2019 lockt zahlreiche BesucherInnen in das Audimax der Universität Wien – so zahlreich, dass ein weiterer Hörsaal mit Liveübertragung zur Verfügung gestellt wird. Die gesamte Diskussion gibt es hier zum Nachschauen (Videomitschnitt der Podiumsdiskussion).

Durch den Abend führt Martin Kotynek, österreichischer Journalist und Chefredakteur von der Tageszeitung Der Standard. Der Standard ist bereits zum sechsten Mal Medienpartner der Semesterfrage der Universität Wien – nach Migration, Digitalisierung, Gesundheit, Demokratie und Klimawandel wird heute die Frage "Was eint Europa?" diskutiert.

Heinz W. Engl, Rektor der Universität Wien, begrüßt die ZuhörerInnen im Audimax und im BIG Hörsaal, die der Diskussion vor der Leinwand folgen. Europa sei mehr als eine geographische Einheit, erklärt er. Im universitären Kontext würde das vor allem an universitären Netzwerken wie The Guild, europäischen Fellowships, ERC-Förderungen, EU-Projekten oder dem Erasmus-Programm, mit dem jährlich Studierende ins EU-Ausland gehen oder an die Universität Wien kommen, deutlich werden.

Rektor Engl freut sich über die mittlerweile sechste Semesterfrage. Er bedankt sich "prophylaktisch" bei den ExpertInnen, die heute über Europa diskutieren werden, und begrüßt Franz Vranitzky, ehemaliger österreichischer Bundeskanzler und Keynote Speaker des heutigen Abends.

Unter Vranitzky ist Österreich der Europäischen Union beigetreten. Noch gut erinnere er sich an die Volksabstimmung im Mai 1994, bei der 68 Prozent der ÖsterreicherInnen für den Beitritt stimmten – "eine eindeutige Bestätigung der Richtigkeit der eingeschlagenen Politik." Bei heutigen Umfragen kämen wir nicht mehr auf diese Zweidrittelmehrheit, räumt Vranitzky ein. Die Frage nach dem "Zement, der dieses Unterfangen zusammenhält", sei daher äußerst relevant.

Für ihn sei es das Bekenntnis zu den Menschenrechten, die Sicherstellung des Friedens in Europa sowie die Souveränität. Doch das Wiedererstarken des Nationalismus in ganz Europa führe zu Spannungen, die rasch entgleiten könnten, mahnt er.

Auf das Podium gesellen sich zum sympathischen Bundeskanzler a.D. der Ökonom Martin Kocher, Nini Tsiklauri, EU-Aktivistin und Studentin der Politikwissenschaft, Sylvia Hartleif, Leiterin Außenpolitik des Europäischen Zentrums für politische Strategie der Europäischen Kommission, Schriftstellerin Maja Haderlap sowie Europaforscherin Gerda Falkner.

Bevor die Diskussion beginnt, verweist Moderator Martin Kotynek auf die "Mitmach-Wand", die an verschiedenen Standorten der Uni Wien aufgestellt war. Studierende und Lehrende konnten mit einem Pin ihre Einstellungen zur EU illustrieren. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Mehrheit fühlt sich als EuropäerIn (hier geht es zur Auswertung von Wolfgang Schmale, Professor für Geschichte der Neuzeit am Institut für Geschichte). Eine Spontanumfrage im Saal bestätigt das Stimmungsbild: Das Audimax ist gefüllt mit EuropäerInnen.

Niki Tsiklauri, Studentin der Politikwissenschaft und Internationalen Beziehungen an der Universität Wien, freut sich sichtlich über das Resultat. Tsiklauri hat in Georgien im Jahr 2008 die kriegerischen Auseinandersetzungen miterlebt und sich geschworen, fortan für Rechtsstaatlichkeit, Sicherheit, Frieden und Menschenrechte zu kämpfen. In diesem Sinne hat sie die BürgerInnenbewegung "Pulse of Europe" und die Projekt-Werkstatt "Europe Lab Austria" ins Leben gerufen. "Wir müssen die Europäische Union näher zu den BürgerInnen bringen und über moderne Konzepte wie citizen assemblies und BürgerInneninitiativen nachdenken", plädiert sie.

"In der jetzigen Zeit ist es schwierig, ein positives Narrativ zu finden", räumt Martin Kocher, Professor an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Wien sowie Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Höhere Studien in Wien, ein und beruft sich auf die Eurokrise oder Grenzkontrollen im Schengenraum. Für ein mehr an Europa bräuchte man überzeugende, mehrheitsfähige Konzepte, so Kocher: Doch momentan erinnere die Situation an einen "gordischen Knoten" – "niemand weiß, wie man Europa weiterentwickeln kann." 

Wir können auch stolz sein, findet Sylvia Hartleif, Leiterin des Bereichs Außenpolitik im Europäischen Zentrum für Politische Strategie, dem internen Think-Tank des Präsidenten der Europäischen Kommission. "Seit der EU haben wir die längste Friedens- und Wohlfahrtsperiode, die EU ist der größte Geber von humanitärer Hilfe und verfügt über den größten Binnenmarkt weltweit."

Für Gerda Falkner, Leiterin der Arbeitsgruppe EIF (Centre for European Integration Research) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, seien es u.a. die neuen Formen des Diskurses, die Europa gefährdeten. Echokammern oder Filterblasen – "Was in den neuen Medien für Aufmerksamkeit sorgt, sind Hass und Angst."

Franz Vranitzky stimmt seiner Vorrednerin zu und ergänzt: "Wir müssen das gemeinsame Ganze sehen. Wenn das verloren geht, haben die Splittergruppen Konjunktur."

Schriftstellerin Maja Haderlap erinnert sich noch an die "voreuropäische Welt" zurück. Die Geschichte wirke nach und Veränderungen passierten langsam, weiß sie. Ihre Zukunftsprognose: "Auch Europa wird über Generationen wachsen." Sie ist in Südkärnten aufgewachsen und thematisiert in ihrem Werk die Grenze als "Nahtstelle, die die Geschichte unserer Konflikte und unseres Zusammenwachsens erzählt". Haderlap wurde für ihre Verdienste um die interkulturelle und grenzüberschreitende Verständigung mehrfach ausgezeichnet.

Nach der Podiumsdiskussion ist vor der Europawahl: Ende Mai findet die neunte Wahl zum Europäischen Parlament statt. "Es ist die erste Wahl, in der die Millennials ihre Stimme abgeben", merkt Sylvia Hartleif an: "Ich setze auf die neue Generation und die Zukunft." Die Semesterfrage wird die Universität Wien noch länger beschäftigen. Beiträge von WissenschafterInnen zum Thema Europa werden laufend hier ergänzt.

Spannende Wortbeiträge kommen auch aus dem Publikum: Die Sorge um die schwindende Sozialdemokratie und Reformvorschläge für die EU geben Diskussionsanstöße.

Franz Vranitzkys Schlusswort geht über das Thema Europa hinaus: "Es geht darum, die Zivilgesellschaft zu erhalten." Er bedankt sich bei den ZuhörerInnen und MitdiskutantInnen: Er habe an diesem Abend keine Stimme der Resignation gehört, die Rede war nur von "wir wollen, müssen und werden" – dieses "werden" müssen wir uns erhalten. (© derknopfdruecker.com/Text: Hanna Möller)