Phantasien und Fakten über "zwei Amerikas" (Teil 2)
| 10. Juli 2012137 Jahre alt ist die Geschichte des ICA – des weltweit größten Kongresses für AmerikanistInnen, der heuer insgesamt zum 54. Mal und dabei zum 3. Mal in Wien stattfindet. Teil 2 des historischen Rückblicks zeichnet die bewegten Jahre von 1960 bis 2012 nach.
Dass die Wissenschaft stärker aktiv werden musste, wurde beim 34. ICA betont, der im Juni 1960 in Wien stattfand und der rund 400 TeilnehmerInnen aus 23 Ländern verzeichnete. Der Kongressvorsitzende Robert Heine-Geldern hatte schon vorher im Auftrag der UNESCO begonnen, die Erforschung der vom Verschwinden bedrohten Ethnien zu intensivieren. Gemeinsam mit der Generalsekretärin des Wiener ICA-Treffens, Anna Hohenwart-Gerlachstein, gab er das "Bulletin of the International Committee on Urgent Athropological and Ethnological Research" heraus.
Robert Heine-Geldern war Vorsitzender des 34. ICA 1960 in Wien und initiierte eine "SOS-Aktion" für Indigene. (Foto: Österreichische Nationalbibliothek) |
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Sowohl Heine-Geldern als auch Hohenwart-Gerlachstein waren in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich am Wiederaufbau der Völkerkunde beteiligt, die zuvor von der Rassenideologie der Nationalsozialisten verseucht worden war. Anna Hohenwart-Gerlachstein, die sich als "Anti-Nazi" bezeichnete, hatte ab 1942 als einfache Sekretärin am Wiener Völkerkundeinstitut gearbeitet. Zu Kriegsende, als sich die Nazis absetzten, brachte sie das wertvolle Material des Instituts in Sicherheit. Nach 1945 studierte sie und promovierte 1951 (mit einer Dissertation über die Frau im Alten Ägypten) bei Professor Heine-Geldern.
Anna Hohenwart-Gerlachstein war ICA-Generalsekretärin. Gemeinsam mit Heine-Geldern war sie nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau der Völkerkunde beteiligt. (Foto: Aus ihrem Buch "Nubienforschungen", Wien, 1979) |
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Heine-Geldern, Jahrgang 1885, hatte ab 1938 als jüdischer Flüchtling in New York gelebt, wo er mit der weltbekannten Kulturanthropologin Margaret Mead zusammenarbeitete. In Wien baute er ab 1950 das Institut für Völkerkunde neu auf, das seine Räumlichkeiten bis in die frühen 1960er-Jahre nahe den Stallungen der Lipizzaner hatte. Heine-Geldern war an sich ein Südostasien-Spezialist, der die Theorie vertrat, dass die Hochkulturen Mexikos asiatischen Ursprungs seien. Wegen dieser Ideen sei er beim Wiener ICA und beim nachfolgenden 35. Kongress in Mexiko mit dem dortigen Vorsitzenden Ignacio Bernal in die Haare geraten, berichtet die Ethnologin Angelina Pollak-Eltz.
Zeitzeugen
Die Wienerin Pollak-Eltz, Jahrgang 1932, hatte in den 1960er-Jahren in Wien studiert und war dann Professorin in Caracas (Venezuela) geworden. Ab dem 37. ICA (1966 im argentinischen Mar del Plata) nahm sie bis in die 1990er-Jahre regelmäßig an den AmerikanistInnentreffen teil und erlebte deren Veränderung. Die Zahl der TeilnehmerInnen (vor allem auch aus Lateinamerika) wurde immer größer, kultur- und sozialanthropologische Themen nahmen zu, während der Raum für die Archäologie und die klassische Völkerkunde enger wurde.
Lesen Sie im nächsten Beitrag der Studierenden des Interdisziplinären Universitätslehrgangs für Höhere Lateinamerika-Studien ein Interview mit Kongressteilnehmerin und Zeitzeugin Angelina Pollak-Eltz. Demnächst im Dossier "Amerika in Wien" in uni:view. |
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Offenbar wurden die WissenschafterInnen in ihrem Denken auch politischer. Dies berichtet der Anthropologe Georg Grünberg, dem der Wiener ICA von 1960 den Weg zur Feldforschung am Amazonas ebnete. Grünberg, Jahrgang 1943, hatte in Wien beim Völkerkundler Josef Haeckel studiert, der 1960 im Generalsekretariat des ICA saß. Der Kongress habe für die nach 1945 weitgehend isolierten Wiener WissenschafterInnen "den Startschuss für den Kontakt mit internationalen Kollegen und Kolleginnen" bedeutet, meint Grünberg, der aufgrund persönlicher Beziehungen Haeckels zu einem Stipendium in São Paulo kam. Wieder zurück in Wien schrieb er in Heine-Gelderns "Bulletin" einen Beitrag, in dem er noch vorsichtig über die "interethnischen Friktionen" zwischen Kautschuksammlern und Indianern berichtete. Ein paar Jahre später, 1968, prangerte er offen den "Genozid" an den Indigenen Brasiliens an.
Kongress wird politischer
Die Politisierung innerhalb der AmerikanistInnen ging, wenn auch nicht bei allen, weiter voran. Beim 39. ICA 1970 in Lima nahm die Wienerin Pollak-Eltz noch an Vorträgen zur Archäologie und Kolonialgeschichte teil und unternahm Exkursionen nach Machu Picchu und – im Dampfschiff über den Titicacasee – nach Bolivien.Gleichzeitig diskutierten aber andere KongressteilnehmerInnen über das politische Erbe von Ernesto "Che" Guevara, der 1967 in Bolivien getötet worden war. In Peru, wo seit 1968 eine linke Militärjunta herrschte, gab es zudem Debatten über einen Kollegen, der 1970 in den Untergrund abtauchte: Abimael Guzmán, Jahrgang 1934, war seit 1962 Philosophieprofessor an der Universität von Ayacucho. Dort studierte er Quechua und entwickelte mit maoistischen Ideen die Ideologie des "Leuchtenden Pfads" (Sendero Luminoso) gegen den Neokolonialismus, der direkt in Terror und staatlichen Gegenterror mündete. Die Dokumente des Amerikanisten-Kongresses von Lima seien "voll mit absoluten ideologischen Widersprüchen", heißt es dazu in der schon zitierten ICA-Chronik.
Ab dem 41. ICA des Jahres 1974 (wieder in Mexiko) wurden die Politikwissenschaften ständig zu einem Teil des Kongressprogramms. Ein völlig neues Element kam dann im Jahr 2000 in die zunehmende Routine der Amerikanistenkongresse: Der 50. ICA fand, 125 Jahre nach dem Start der Kongressserie, in Warschau in Polen statt und damit zu ersten Mal in einem Land des früheren Ostblocks. Über die Einbeziehung von ForscherInnen aus Mittel- und Osteuropa hinaus wollten die OrganisatorInnen auch der "thematischen Atomisierung" entgegen wirken.
TIPP: Videobeitrag zum Internationalen Kongress der AmerikanistInnen (ICA), gestaltet von Studierenden des Interdisziplinären Universitätslehrgangs für Höhere Lateinamerika-Studien der Universität Wien und des Österreichischen Lateinamerika-Instituts. Zum Videoclip |
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Neue Forschungsfelder, neue FeldforscherInnen
Doch Area Studies, wie sie die seit Beginn interdisziplinär angelegten AmerikanistInnenkongresse pflegen, lassen sich nicht thematisch eingrenzen. Neue Forschungsfelder wie Gender Studies, Bio-Anthropologie, Stadtentwicklung und die Folgen der Globalisierung kamen hinzu. Und in jüngster Zeit macht sich, wie auch beim 54. ICA in Wien zu sehen sein wird, ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse von ForscherInnen aus China und anderen Ländern Asiens an den "beiden Amerikas" bemerkbar.
Lesen Sie mehr über die Geschichte des Internationalen Kongresses der AmerikanistInnen (ICA) von den Anfängen 1875 bis zum Zweiten Weltkrieg im Artikel "Phantasien und Fakten über "zwei Amerikas" (Teil 1).
Der Autor, Erhard Stackl, ist Teilnehmer des Interdisziplinären Universitätslehrgangs für Höhere Lateinamerika-Studien der Universität Wien und des Österreichischen Lateinamerika-Instituts.
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