Digitale Lehre als Chance für alle

Frau sitzt am Laptop mit Kopfhörern

Die Umstellung des Universitätsbetriebs auf home-learning hält Herausforderungen für Student*innen und Lehrende bereit. Mit welchen Konzepten beide Seiten davon profitieren können und wie digital geprüft werden kann, verrät Psychologe Ulrich Ansorge.

uni:view: Wie organisieren Sie die digitale Lehre, die aufgrund der COVID-19-Pandemie erforderlich wird?
Ulrich Ansorge: Meine Vorlesung ist nach dem Flipped-Classroom-Prinzip strukturiert. Das bedeutet, dass die Studierenden den Stoff zu Hause vorbereiten. Wir verwenden ein Lehrbuch, damit der Prüfungsstoff verbindlich geregelt ist und bearbeiten ein Kapitel pro Woche. Die Präsenzeinheiten sind den Fragen, Problemen und Interessen der Studierenden gewidmet. Bis Montag Mittag werden die Beiträge über einen aktuellen Abgabebereich in Moodle gesammelt. Am Dienstagmorgen werden die Themen dann in der digitalen Vorlesung behandelt. Dazu wird Montagnachmittag vom Lehrenden eine digitale Präsentation erstellt. Zu jedem Kapitel werden zusätzliche Materialien in Moodle bereitgestellt, die ein tieferes, vernetzteres Wissen ermöglichen und den Textinhalt mit der Alltagserfahrung verbinden. Die Materialen sind Podcasts, Advance Organizers, Zeitungsartikel oder TED Talks, also Videos.

uni:view: Was ist der Vorteil des Konzepts?
Ansorge: Das Flipped-Classroom-Konzept erlaubt es den Studierenden, den Stoff im eigenen Tempo zu erarbeiten. Sie können Feedback geben und ihre Probleme und Fragen zur Sprache bringen. Umgekehrt erlaubt es den Lehrenden, den Studierenden auch in großen Veranstaltungen Feedback zu geben. Durch die Verwendung zusätzlicher Materialien und das Feedback der Studierenden wird der Lehrstoff mit einer breiteren Basis existierender Vorkenntnisse verknüpft. So ist es für die Studierenden leichter, sich Gelerntes zu merken und zu verstehen. Studierende erfahren mehr Selbstwirksamkeit bei den Inhalten der Lehre und ihre Interessen werden besser berücksichtigt. Das steigert die Motivation. Aber auch Lehrende profitieren. Sie erhalten ein realistischeres und für die individuell unterschiedlichen Studierenden passendes Bild der Kenntnisse und Verständnisschwierigkeiten.

uniview: Was ist die Herausforderung bei der Abhaltung einer digitalen Prüfung?
Ansorge: Die Prüfungen eignen sich gut für ein Open-Book-Format, weil reines Wissen relativ leicht auch noch während der Prüfung nachgeschlagen werden könnte. Um die gute Verankerung der erworbenen Kenntnisse zu prüfen, bieten sich daher Transferaufgaben an, in denen erworbenes Wissen angewandt wird. Herausforderungen bestehen hier in dreierlei Hinsicht. Erstens muss die Prüfung so gestaltet sein, dass sie die für Transferaufgaben erforderliche Offenheit erlaubt und trotzdem auch bei großen Zahlen an Prüfungsteilnehmer*innen noch mit vertretbarem Aufwand korrigiert und benotet werden kann. Zweitens darf die Prüfung nicht zu schwierig werden. Noch sind Prüfungen mit Anwendungsfragen in Fächern mit vielen Studierenden, wie Psychologie, die Ausnahme. Das heißt, dass viele Studierende, die sich nicht näher mit den Vorabinformationen auseinandersetzen, nicht auf solche Transferfragen vorbereitet sind und dort wenig Erfahrung mitbringen.

Daher enthält die Prüfung auch einen Teil von MC-Prüfungen, und wir machen von Bonuspunkten Gebrauch, mit deren Hilfe im Zuge der Veranstaltung schon vor der Prüfung zumindest die MC-Transfer- und Textaufgaben geübt und gleichzeitig Punkte durch regelmäßige Mitarbeit erworben werden können. 

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Drittens sollen die Transferaufgaben möglichst einen Bezug zu den Kompetenzen haben, die Studierende im Beruf benötigen. Ziel ist es, kompetenzorientiert zu prüfen, also das zu prüfen, was tatsächlich für die erfolgreiche Ausübung eines Berufs benötigt wird. Das Problem ist, dass auf unterschiedliche Berufsgebiete Bedacht genommen werden müsste, in denen Studierende ihr im Studium erworbenes Wissen anwenden. Da die große Mehrheit der Studierenden im nicht-akademischen Bereich beruflich tätig wird, besteht hier eine große Heterogenität.

Das ist sicher ein Grund dafür, dass diese Kompetenzen bislang auch nicht in den Curricula festgehalten werden. Hier können wir nur auf Basis unserer eigenen Erfahrungen und Kenntnisse in den außeruniversitären Tätigkeitsbereichen mehr oder minder plausibel spekulieren, um passende Aufgaben zu formulieren. In der Prüfung erfolgt die Anwendung des Wissens daher zum Teil auch nur durch Transfer zwischen einzelnen Gebieten des gelehrten Stoffes, zum Beispiel in der Kognitionspsychologie von Wissen über das Gedächtnis auf den Bereich der Sprache. Diese Art von Wissenstransfer sichert zumindest den Lernerfolg durch bessere Vernetzung des Wissens und die damit einhergehende stärkere Verankerung des Wissens im Gedächtnis.

uni:view: Welche Anforderungen werden an die Studierenden in einem Psychologiestudium gestellt?
Ansorge: Am Institut für Psychologie forschen wir zum Beispiel zu den Themen Ästhetik, Steuern oder lebenslanges Lernen. Im Studium lernt man die Grundlagen der Psychologie in Vorlesungen, Übungen, Seminaren und auch durch Praktika zu verstehen. Empirische Forschung spielt eine wichtige Rolle. Mathematik, Statistik und naturwissenschaftliche Methoden sind ein großer Teil des Studiums! Im Masterstudium kann man sich dann in Wien auf einen von vier Schwerpunkten zu spezialisieren: Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft; Entwicklung und Bildung; Geist und Gehirn; oder Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie. 

uni:view: Danke für das Gespräch!

Ulrich Ansorge ist seit 2009 Professor für Experimentelle Psychologie an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien. Er forscht unter anderem zu den Themen menschliche Wahrnehmung und Aufmerksamkeit.