Kirsten Rüther: Über Umwege nach Afrika

Die überfüllten Lehrveranstaltungen in ihrem Geschichtsstudium bewegten die nunmehr begeisterte Afrikawissenschafterin Kirsten Rüther Anfang der 1990er Jahre, sich der Geschichte Afrikas zuzuwenden. Heute ist sie Professorin für Geschichte und Gesellschaften Afrikas an der Universität Wien.

Als Kirsten Rüther 1990 mit ihrem Studium der Geschichte an der Universität Hannover begann, gab es sehr viele Studierende im Fach. "Ich hatte damals das Gefühl, meinem Wunsch nach tieferem Verständnis von Wissenschaft in dieser so überlaufenen Studienrichtung nicht so richtig nachgehen zu können", erinnert sie sich. Auf der Suche nach dem "geeigneten Raum für intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung" entdeckte die junge Kirsten Rüther schließlich die Lehrveranstaltungen zur Geschichte Afrikas am Historischen Seminar der Universität Hannover.

"Viele AfrikawissenschafterInnen kommen aus der Solidaritätsbewegung. Für mich war die Auseinandersetzung mit Afrika, insbesondere seiner Geschichte und seinen Geschichten, zunächst mein persönlicher Weg in die Wissenschaft überhaupt", sagt sie.

Im Bann der Afrikawissenschaft

Es dauerte nicht lange, bis Kirsten Rüther die Neugier für die Geschichte und die Gesellschaften Afrikas mehr und mehr packte. "Zu Beginn waren es sicherlich auch die Faszination und das Interesse gegenüber dem unbekannten, vermeintlich 'anderen Afrika', die mich ans Thema fesselten. Außerdem habe ich mich zu Beginn des Studiums viel mit ländlicher Entwicklung auseinandergesetzt. Ich bin selbst in einem kleinen Dorf aufgewachsen und habe bemerkt, dass mir hier vieles bekannt vorkommt und Afrika nicht mit einem 'exotischen Blick' betrachtet werden muss", so die Historikerin.

Nach ihrer Promotion an der Universität Hannover forschte die Afrikanistin Ende der 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre v.a. in Johannesburg, Durban und Pietermaritzburg (Südafrika) und in Oxford (GB). In den darauffolgenden Jahren arbeite sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin u.a. an den Universitäten Hamburg und Hannover. Seit Oktober 2012 hat Kirsten Rüther die Professur für Geschichte und Gesellschaften Afrikas am Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien inne.


Von 1993 bis 1994 verbrachte Kirsten Rüther im Rahmen von Erasmus einen Auslandsaufenthalt an der "University of Bristol" (GB). Das Foto zeigt sie in der Bibliothek der "University of Bristol" während einer Literaturrecherche zum Thema "Scout-Bewegung" in Zimbabwe.



On the ground


In der Forschung beschäftigen Kirsten Rüther vor allem "Alltags- und Mikrogeschichten": "Mich interessieren primär die Lebenswelten von Menschen in kleinen Organisationsformen, wie Familien und Dörfer, und wie in diesen Einheiten gesellschaftliche Herausforderungen verhandelt wurden." Seit ihrer Dissertation arbeitet sie hier auch zu den Themen Christianisierung und Missionierung im kolonialen Afrika. "Das hat natürlich sehr viel mit Religion und Kolonialismus zu tun, ist aber auch alltagsrelevant, denn Christianisierung und Missionierung haben tief in die Belange Schule, Häuser und Politik allgemein der kolonialisierten Länder eingegriffen", sagt die neue Professorin.

Städte in Afrika

Ein weiterer Forschungsschwerpunkt der Historikerin sind die Städte Afrikas. Sie stellt sich die Frage, wie "europäische" Vorstellungen von "Stadt" im Spannungsverhältnis zu "afrikanischen" stehen. "Wie eine 'ideale Stadt' auszusehen hat, wird oft aus einer europäischen Perspektive definiert. Afrikanische Städte werden dann schnell als 'chaotisch' oder 'nicht funktionierend' beschrieben." In der Stadtforschung widmet sich Kirsten Rüther neuerdings v.a. der Frage, wie Häuser und Wohnungen von Arbeitgebern in der spätkolonialen Phase Mitte des 20. Jahrhunderts zur Verfügung gestellt wurden und zu Disziplinierungszwecken verwendet wurden.


Das Foto zeigt Kirsten Rüther während eines Forschungsaufenthalts in Johannesburg, Südafrika, im Stadtteil Thembisa mit einer Gruppe von "car minders" – selbstorganisierte Parkwächter, die in den Straßen südafrikanischer Großstädte arbeiten.



Forschung trifft Privatleben

"AfrikanerInnen in den kolonialisierten Ländern hatten oft kein Recht, Grundstücke zu kaufen oder Häuser zu bauen, also waren Arbeitgeber im Kontext von Wohnraumsuche von immanenter Bedeutung", so Rüther: "Wie ein Haushalt 'richtig'" geführt wird, was Familie bedeutet und Leben in der Stadt ausmacht, wurde somit von europäischen Konzepten bestimmt und durchgesetzt." Dabei möchte sich die Afrikawissenschafterin u.a. der Frage widmen, wie solche Begriffskonstruktionen aufgebrochen und alternativ formuliert werden können.  


Wissen auf den Kopf stellen

Studierenden, die am Anfang ihres Studiums stehen, empfiehlt Kirsten Rüther, sich zunächst einen Grundstock von Wissen anzulesen, um die vielfältigen Perspektiven des Fachs nachvollziehen zu können. Darauf aufbauend ist es ihr ein besonderes Anliegen, den StudentInnen die "Kunst des Debattierens" zu vermitteln. "Die Studierenden sollen das angelesene Wissen praktisch anwenden, anfangs zum Beispiel in der Diskussion mit StudienkollegInnen", betont sie und ist in ihren Vorlesungen stets darum bemüht, die Lust am Fragen sowie Hinterfragen bei den Studierenden zu wecken. "Nur so können eingefahrene Positionen in der Wissenschaft aufgebrochen werden", betont die Afrika-Historikerin.

Österreich entdecken

In ihrer Freizeit reist die neue Professorin gerne: "Da ich erst seit kurzem in Österreich lebe, möchte ich gerne das Land kennenlernen. In Wien selbst gehe ich besonders gerne im Wienerwald und an der Donau spazieren. Es gibt hier sehr viel Interessantes zu entdecken", so die in Rendsburg (D) geborene Kirsten Rüther über ihre neue Wahlheimat. (fh)

Univ.-Prof. Dr. Kirsten Rüther vom Institut für Afrikawissenschaften hält ihre Antrittsvorlesung zum Thema "Auseinandersetzungen mit Wandel in afrikanischen Gesellschaften im Rahmen einer 'area study': Relevanzproblem und Möglichkeitsräume" am Donnerstag, 4. Dezember, 2014, um 17 Uhr im Kleinen Festsaal der Universität Wien.