Christian Grafl: Der Kriminalität auf der Spur

Durch die Frage nach der Vergabe von Fußfesseln an Sexualstraftäter in Österreich war das Thema Strafvollzug in den Medien in den vergangenen Wochen wieder präsent. Christian Grafl, der seit Oktober 2011 die erste Professur für Kriminologie und Kriminalistik inne hat, setzt auf Prävention und spricht sich gegen härtere Strafen aus.

Ursachen, Erscheinungsformen und Bekämpfungsmöglichkeiten von Kriminalität stehen im Fadenkreuz der Kriminologie. Die Einrichtung der neuen Professur am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien sieht Christian Grafl – der seine wissenschaftliche Ausbildung an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät absolvierte – auch als Anerkennung des Fachs selbst an. Das Interesse der Studierenden an dem Wahlfach ist groß: "In meinen Hauptvorlesungen habe ich jedes Semester etwa 300 bis 400 StudentInnen, teilweise von anderen Fakultäten wie der Psychologie und Soziologie", erklärt der 52-jährige, der den Nachwuchs-KriminologInnen vermitteln möchte wie die Verbrechensrealität ausschaut.

Fachwissen in die Politik tragen

Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Jugend-, Gewalt- und Ausländerkriminalität, Kriminalprävention sowie Sanktionen- und Wirkungsforschung. Dabei ist er bestrebt, das Fach auch praktisch umzusetzen: "Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Politik unsere Forschungsergebnisse noch stärker in ihre Überlegungen einbringt. Wenn beispielsweise die Frage nach einem neuen Unternehmensrecht aufkommt, werden selbstverständlich ExpertInnen hinzugezogen. Wenn allerdings die Frage lautet, ob SexualstraftäterInnen Fußfesseln bekommen sollten, dann hat von der Kronenzeitung bis zum Stammtisch jeder Österreicher und jede Österreicherin eine Meinung dazu. Und da sowohl Kriminalität als auch die Politik emotional funktionieren, scheint gerade in der Kriminalpolitik die Meinung zu herrschen, durch ein vermeintlich 'hartes' Durchgreifen bei der Bevölkerung punkten zu können."

Prävention statt härterer Strafen


Forschungsergebnisse zeigen jedoch keine Verringerung der Kriminalitätsrate durch ein erhöhtes Strafmaß: "Jemand, der eine Straftat begeht, obwohl sie mit 15 Jahren Gefängnis ausgelegt ist, wird sich auch von weiteren fünf Jahren nicht abschrecken lassen. Das sieht man u.a. an dem Beispiel USA, die trotz der Todesstrafe eine der höchsten Mordraten der Welt aufweisen."

Der Kriminologe bewertet daher die Präventions- und Ursachenforschung als zielgerichteter. "Das scheint zwar aufwändiger und teurer zu sein, auf Dauer zahlt es sich aber doppelt aus. Denn allein aus finanzieller Sicht sind beispielsweise Sozialarbeiter günstiger als Gefängnisse – ein einzelner Hafttag kostet bis zu 100 Euro."


Der Hieronymus-Tag wird am 17. und 18. Oktober bereits zum zweiten Mal am Zentrum für Translationswissenschaft begangen. Am Programm stehen neben den Antrittsvorlesungen ein Vortrag des Web-Übersetzers Franz Lichtmannegger zum EPSO-Auswahlverfahren, die Präsentation von Best-Practice-Beispielen am ZTW, die Eröffnung der Ausstellung "Europäische Schicksale – Europäische Perspektiven/Autoren europäischer Identität" sowie eine Lesung der Schriftstellerin und Dolmetscherin Julya Rabinowich. Einladung (PDF)



Kein X für ein U vormachen


Seit 21 Jahren arbeitet Christian Grafl neben seinen wissenschaftlichen Tätigkeiten als beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Allgemeine Kriminologie, Urkundenuntersuchung und Schriftwesen. "Die Tätigkeit als Gerichtsgutachter ist für mich eine praxisnahe Umsetzung meiner Forschung", erläutert der Wissenschafter, und erklärt: "Ich untersuche beispielsweise, ob eine Handschrift auf einem Testament oder einer Schuldurkunde von einer bestimmten Person stammt oder nicht."

Mord ist sein Hobby

Auch in der Freizeit lässt den vierfachen Familienvater die Kriminologie nicht ganz los. "Zur Entspannung lese ich tatsächlich am liebsten Kriminalromane", schmunzelt Grafl, zu dessen Leserepertoire u.a. der amerikanische Schriftsteller Jeffery Deaver zählt: "Seine Bücher haben viel mit Kriminalistik und Spurensuche zu tun. Manchmal muss ich beim Lesen allerdings schon innerlich lächeln, wenn ich mir denke: So funktioniert es in der Praxis dann doch nicht." (mw)

Univ.-Prof. Dr. Christian Grafl hält im Rahmen des Hieronymus-Tages seine Antrittsvorlesung zum Thema "'Lie to me' – Wahrheitsfindung im Spannungsfeld divergierender Interessen" am Donnerstag, 18. Oktober 2012, um 18 Uhr im Großen Festsaal der Universität Wien gemeinsam mit Univ.-Prof. Mag. Dr. Mira Kadric-Scheiber (zum Porträt von Mira Kadric-Scheiber in uni:view) vom Institut für Translationswissenschaft.