Spiel und Wirklichkeit: Wann wird kooperiert?

Warum fahren wir auf der rechten Straßenseite und nicht auf der linken? Brauchen wir im Verkehr Regeln oder würden sich bestimmte Standards selbstständig entwickeln? Anhand der Spieltheorie beantworten Mathematiker und Wirtschaftswissenschafter im neuen Gebäude der Universität Wien die Frage, wie Normen entstehen.

Der Kindergarten "Pinocchio" schließt um fünf Uhr. Viele arbeitende Eltern schaffen es nicht, ihre Kinder rechtzeitig abzuholen und kommen regelmäßig zehn Minuten zu spät. Die BetreuerInnen müssen länger bleiben – und natürlich dafür bezahlt werden. Für die Kindergartenleitung wird das zum Problem, und sie führt eine Strafe für Verspätungen ein: zehn Euro pro Viertelstunde. Wider Erwarten kommen die Eltern in Folge noch später. Auf die Frage nach dem "Warum" lautet die Antwort: Immerhin zahlen wir einen Preis dafür. Obwohl die Kindergartenleitung die Strafe wieder abschafft, kann die ursprüngliche Situation nicht wiederhergestellt werden. "Wird ein Preis eingeführt, kann eine bis dahin bestehende soziale Norm schnell erodieren, die sich auch bei Abschaffung des Preises nicht nochmals einstellt", erklärt Maarten Janssen vom Institut für Volkswirtschaftslehre anhand des konkreten Beispiels.

Vom Preis abhängig

Zusammen mit dem Mathematiker Josef Hofbauer und drei Postdocs entwickelt der Volkswirt dynamische mathematische Modelle, um solche empirischen Beobachtungen zu erklären und zu verstehen, wann bzw. unter welchen Voraussetzungen soziale Normen erodieren: "So ist u.a. der Preis – oder der wirtschaftliche Anreiz – an sich ausschlaggebend: Hätte die Kindergartenleitung z.B. eine 100-Euro-Strafe eingeführt, wäre die Norm bestehen geblieben." Die Norm hängt außerdem davon ab, ob die jeweils "Anderen" eine Beachtung bzw. Nichtbeachtung der Norm feststellen. "Im Kindergarten sehen die Eltern genau, wer zu spät kommt und wer nicht", führt Janssen das Beispiel weiter.


Dieser Artikel erschien im Forschungsnewsletter Oktober 2013.
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Interaktion zwischen Individuen


Anhand der mathematischen Modelle zeigen die Wissenschafter, unter welchen Konditionen sich Interaktionen zwischen sozialen Normen und Preisen entwickeln, welchen Einfluss das Verhalten der einzelnen Personen darauf hat und wie die Normen das individuelle (wirtschaftliche) Verhalten beeinflussen – und nicht zuletzt, welche Strategien einzelne Personen wählen. "Wir können damit die Struktur gewisser ökonomischer Probleme besser verstehen und in konkreten Fällen dahingehend beeinflussen, dass die Interaktion zwischen Individuen besser funktioniert", erklärt der Volkswirt, der sich dabei der evolutionären Spieltheorie bedient: Im Unterschied zur klassischen Spieltheorie basiert das Verhalten der "Spieler" dabei nicht nur auf rationalen Entscheidungskalkülen. Die zentrale Frage lautet hier: Unter welchen Konditionen entwickeln Personen stabile Verhaltensmuster?

Die Spieltheorie verbindet


Die Spieltheorie ist ein für die Mathematik als auch für die Wirtschaftswissenschaften besonders bedeutendes Forschungsgebiet. Der Wirtschaftswissenschafter Oskar Morgenstern hat im Jahr 1944 – gemeinsam mit dem Mathematiker John von Neumann – die Grundlage für die Spieltheorie gelegt: "Morgenstern hat schon damals die Möglichkeiten der Spieltheorie für die Wirtschaftswissenschaften erkannt – in den 60er und 70er Jahren entstand schließlich die für die Wirtschaftswissenschaften bedeutende evolutionäre Spieltheorie", so Janssen und ergänzt: "Da es an der Fakultät für Mathematik der Universität Wien eine Gruppe gibt, die sich intensiv mit der Spieltheorie beschäftigt, lag es nahe, dieses Kooperationsprojekt zu starten."


Oskar Morgenstern, geb. 1902 in Görlitz (D), gest. 1977 in Princeton (USA) – Mitbegründer der Spieltheorie – steht mit seinem Namen für die einmalige Symbiose von Wirtschaftswissenschaften und Mathematik. Mit der Umbenennung der neuen Standortadresse in "Oskar-Morgenstern-Platz 1" wird dem großen österreichischen Wissenschafter Rechnung getragen und dem Unrecht, das ihm zur Zeit des Nationalsozialismus widerfuhr - er wurde 1938 von der Universität Wien vertrieben - gedacht.
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Einheitliche Produktstandards

In diesem Rahmen konzentrieren sich die Mathematiker auf die Lösung komplexer Systeme, während die Volkswirte die mathematischen Modelle auf konkrete Beispiele in der Wirtschaft anwenden: "Entwickeln sich bestimmte Normen von selbst, weil es im Interesse der Allgemeinheit ist, dass ein System gut funktioniert – oder brauchen wir Regeln?" Die Industriewirtschaft ist z.B. immer wieder mit der Frage der Produktstandards konfrontiert, sprich ob verschiedene Systeme – wie z.B. Apple und Windows – miteinander kompatibel sind bzw. sein sollten.

Die Vereinheitlichung von Produktstandards ist eine Frage der Koordination, die nur unter bestimmten Voraussetzungen funktioniert. Die Interaktion zwischen KonsumentInnen und nicht zuletzt die Firmeninteressen spielen hier eine große Rolle. In manchen Fällen, wie dem der Vereinheitlichung der Ladekabel für diverse Handymodelle, stellt sich die Frage, ob eine zentrale Koordination – hier konkret von Seiten der EU – nötig ist. Oder ob sich nach einer gewissen Zeit die Produkte "automatisch" in eine einheitliche Richtung entwickelt hätten. "Unsere mathematischen Modelle zeigen auch hier, unter welchen Konditionen sich eine Kooperation entwickelt und in welchen Fällen hingegen eine zentrale Koordination in der Wirtschaft nötig ist", so Janssen abschließend. (ps)

Das WWTF-Projekt "Die Evolution von Normen und Konventionen in der Wirtschaft" läuft von Oktober 2009 bis Dezember 2014 unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Maarten Janssen vom Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Wien. Projektpartner ist Univ.-Prof. Dr. Josef Hofbauer vom Institut für Mathematik. Projektmitarbeiter sind Luca Paolo Merlino, PhD und Matthias Staudigl, PhD sowie Dr. Simon Weidenholzer.