"Meine Forschung": Hat guter Journalismus ein Ablaufdatum?

"Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern" beschreibt der Volksmund das Gebot der Tagesaktualität im Journalismus. Mit viel älteren journalistischen Texten und ihrem Niederschlag in der Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich Regina Orter in ihrer Dissertation.

In Zeitungsredaktionen muss das Rad nicht jeden Tag neu erfunden werden, manchmal ist es besser sich an Vorbildern zu orientieren. Um ein bestimmtes Niveau auch stabil halten zu können, braucht es im Journalismus sogar solche Vorbilder, die in einem Kanon sichtbar werden und typisch journalistische Werte sicherstellen. Regina Orter geht der Frage nach, wie sich ein Kanon im Journalismus bilden könnte und unter welchen Kriterien Qualitätsjournalismus über den Tag hinaus aktuell bleibt. 

Im uni:view-Dossier "Meine Forschung" stellen DoktorandInnen der Universität Wien ihre Forschungsprojekte vor. Das Dossier läuft in Kooperation mit dem DoktorandInnenzentrum.


Wolfgang R. Langenbucher, langjähriger Vorstand des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, engagiert sich schon seit Jahrzehnten für den deutschsprachigen Hochkulturjournalismus und dessen Wahrnehmung in der Medienforschung. Mit der Edition "Fünfzig Vorbilder des Journalismus" möchte er gemeinsam mit Hans-Jürgen Jakobs auf Höchstleistungen der Printmedien aufmerksam machen und so zu einer Kanonbildung beitragen (Jakobs/Langenbucher 2004).

In einem Statement plädiert Langenbucher vehement für die Verpflichtung der Kommunikationswissenschaft, sich mit dem Kanon auseinanderzusetzen: "Wenn das Fach die wissenschaftliche Grundlage für die Ausbildung darstellt – so, wie die Medizin für die Arztberufe – gehört die Arbeit an einem Kanon zu seinen elementarsten Aufgaben."

Kanon als Vorbild

Was kann man sich nun unter einem oder auch mehreren Kanones vorstellen? Das Wort "Kanon" leitet sich vom lateinischen "canon" ab, was so viel wie "Richtschnur" bedeutet. Die etymologischen Wurzeln des Wortes stammen aus dem Griechischen und bezeichnen ein "Rohr" oder einen "Stab", der früher auch als Modell für Nachbauten genutzt wurde.

Vorbilder gibt es im Journalismus schon seit jeher, allerdings nicht so systematisch in Kanones zusammengefasst, wie dies in der Literaturwissenschaft mit Werken geschieht. Was fehlt, sind klare Regeln für die Bildung von Kanones und das Bewusstsein für kanonbildenden Journalismus innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Disziplin.

Am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien steht das Thema seit einigen Jahren jedenfalls hoch im Kurs: Mit einer eigens eingerichteten Theodor-Herzl-Dozentur wird der "Poetik des Journalismus" Rechnung getragen. Derselbe kulturelle und intellektuelle Rang, wie er für Werke der Musik oder Literatur gilt, wird nun auch für den Journalismus proklamiert.

Vorlesungen von ausgewählten GastdozentInnen und die Veröffentlichung dieser Beiträge in einer Buchreihe dokumentieren originäre Leistungen von JournalisInnen und werden so auch für die Nachwelt zugänglich gemacht.

Best of Journalism

Im angloamerikanischen Raum gibt es bereits stärkere kanonbildende Initiativen: The New York University versuchte 1999 erstmals eine Liste der besten hundert Werke des US-Journalismus zusammenzustellen. Der Juryentscheid war vor allem für den ersten Platz eindeutig: John Herseys "Hiroshima" überzeugte. Der Bericht über die verheerenden Auswirkungen der amerikanischen Atombombe, der 1946 in "The New Yorker" erschien, gilt in amerikanischen Schulen noch heute als Pflichtlektüre – vielleicht ein erster Hinweis auf die Kanonbildung eines Artikels.

Die Besonderheiten, die einen journalistischen Text überdauern lassen, möchte Regina Orter in ihrem Projekt systematisch aufspüren. Dabei orientiert sie sich vor allem an bestehenden Projekten, die bereits versucht haben nach Kriterien auszuwählen, wie etwa das deutschsprachige Pendant zu den "Top 100 Works of Journalism", das Langenbucher gemeinsam mit Hannes Haas ins Leben rief: Sie stellen in der Zeitschrift "message" vierteljährlich die "Top Ten Buchjournalismus" vor.

"Buchjournalismus" als Qualitätsprädikat?

"Buchjournalismus" meint in Buchform publizierten Journalismus, der innerhalb der Disziplin als eigenes Genre gilt und zumeist unter anderen Rahmenbedingungen entsteht als tages-, wochen- oder monatsaktuelle Printprodukte. Durch die Unabhängigkeit vom redaktionellen System können Journalisten Texte mit besonderen Qualitäten oft erst im Medium Buch zu Papier bringen.

Es geht weder darum, Journalismus durch die Herausgabe in Buchform zu "adeln" – wie Langenbucher zynisch bemerkt – noch solle erzwungen werden, dass journalistische Texte über den einzelnen Tag hinaus Bedeutung erlangen.
 Was genau die Qualität dieser Texte ausmacht, also welche Kriterien sie impliziert, dieser komplexen Frage stellt sich Regina Orter im Rahmen ihrer Dissertation – und möchte damit die Qualitäts- und Kanonforschung in der Journalistik ein Stück vorwärts bringen.

Mag. Regina Orter, geb. 1984 in Bad Aibling (D), ist Dissertantin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Sie forscht zu "Kanonbildung im Journalismus" und möchte dabei Qualitätskriterien, die über die Aktualität hinausreichen, aufzeigen. In ihrer Diplomarbeit über Ryszard Kapuściński hat sie sich bereits mit journalistischer Qualität aus genre-analytischer Perspektive auseinandergesetzt. Nun weitet sie den Fokus hin zu Journalismusleistungen, die als verbindliche Lektüre und Vorbild für den medienwissenschaftlichen Nachwuchs gelten könnten.

Literaturtipps zum Thema von Regina Orter:

Kisch, Egon Erwin (1974): Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung. München. Zuerst Berlin 1923

Jakobs, Hans-Jürgen/Langenbucher, Wolfgang R. (2004): Das Gewissen ihrer Zeit. Fünfzig Vorbilder des Journalismus. Wien