Leben im "Deportation-Gap"

In einer liberalen Demokratie sind der Migrationskontrolle Grenzen gesetzt. Nicht alle Personen ohne Aufenthaltstitel müssen oder können das Land verlassen. Wie die Politik den Zugang zu sozialen Leistungen für deklariert "nicht gewollte" MigrantInnen regelt, untersuchen Sieglinde Rosenberger und Ilker Ataç in einem aktuellen FWF-Projekt.

Asylantrag abgelehnt. Folgt keine freiwillige Ausreise aus Österreich, droht die Abschiebung. Aber nicht für Frau F., denn aus ihrem Herkunftsland heißt es: "Frau F. ist nicht unsere Staatsbürgerin". Frau F. bleibt also in Österreich, weil sie nicht abgeschoben werden kann. Ohne Aufenthaltstitel. Der politisch umstrittene und rechtlich fragmentierte Zugang zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen für die Gruppe der temporär nicht-abschiebbaren MigrantInnen steht im Zentrum eines aktuellen FWF-Projekts der PolitikwissenschafterInnen Sieglinde Rosenberger und Ilker Ataç.

Zugang zu sozialen Leistungen

"Aus der nationalstaatlichen Perspektive haben abgelehnte AsylwerberInnen auszureisen oder sollten abgeschoben werden. Es gibt aber eine Reihe von politischen, bilateralen und humanitären Gründen, weshalb AsylwerberInnen mit negativem Bescheid nicht außer Landes gebracht werden (dürfen)", erklärt Rosenberger die Ausgangssituation ihrer Forschung.

Buchtipp zum Thema: "Protest Movements in Asylum and Deportation", Hrsg. Sieglinde Rosenberger, Verena Stern und Nina Merhaut; erschienen 2018 bei Springer Link, Open Access

"Im Projekt geht es um Rechte und Praktiken des Zugangs zu sozialen Leistungen", ergänzt Ataç. Untersucht werden vier Felder: Unterbringung, primäre Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildungseinrichtungen und Geldleistungen in drei Ländern der Europäischen Union – Österreich, Schweden und den Niederlanden. Diese drei Länder teilen die europäischen Bestimmungen, zeigen aber Unterschiede in wohlfahrtsstaatlichen und migrationspolitischen Regelungen und Kulturen.

Der große Spalt

Es ist nicht zwangsläufig die fehlende Bereitschaft der betroffenen Person selbst, die eine Abschiebung unmöglich macht. In der öffentlichen Wahrnehmung und der politischen Debatte sei das oft ein Missverständnis, erklären die WissenschafterInnen. Abschiebungen seien aus unterschiedlichen Gründen nicht durchführbar. Etwa wenn kein Abkommen mit dem Herkunftsland besteht, die zuständige Botschaft kein Heimreisezertifikat ausstellt oder die Identität der Person nicht festgestellt werden kann.

Da aber einerseits ein großer Anteil von Asylanträgen negativ entschieden wird, andererseits strukturell Abschiebehindernisse vorliegen, öffnet sich eine Schere zwischen negativen Bescheiden und durchgeführten Abschiebungen. In der Forschung heißt das "deportation gap". Wie viele Menschen von diesem "gap" genau betroffen sind, lässt sich auf der Grundlage offizieller Statistiken nicht sagen. "Es ist nicht bekannt, wie viele Personen das Land freiwillig verlassen haben, wie viele untergetaucht oder in andere Länder emigriert sind. Bekannt ist, dass derzeit in Österreich rund 3.000 Personen mit einem negativen Asylbescheid in der Grundversorgung aufgenommen sind. Wir gehen aber davon aus, dass viele nicht-abschiebbare Personen derzeit unversorgt bleiben", erklärt Ataç.

"Die liberale Demokratie ist responsiv gegenüber Interessen der WählerInnen und hat Verantwortung gegenüber internationalen Verträgen und Abkommen. Die liberale Demokratie des 21. Jhs. ist aufs engste mit universellen Rechten, wie dem Asylrecht, verknüpft. Zum Wert der Demokratie gehört, dass gewählte PolitikerInnen sich selbst beschränken, Souveränität abgeben, internationale Verpflichtungen respektieren und Grundrechte akzeptieren und praktizieren", so Rosenberger zur Semesterfrage. (Foto: S. Rosenberger)

Politik der Ausnahmen

Soziale Rechte für die Gruppe nicht-abschiebbarer Personen variieren von Land zu Land. Insbesondere in den letzten Jahren haben restriktive Veränderungen stattgefunden. "Je strenger die Bestimmungen, desto eher tauchen Menschen unter und haben keine Versorgung mit dem Allernötigsten. Der Staat erfährt dadurch Kontrollverlust und nicht intendierte Konsequenzen treten auf", stellt Rosenberger fest.

In allen drei Ländern sollen aber Ausnahmeregelungen rasant ansteigende Obdachlosigkeit verhindern, berichten die ForscherInnen: "In Interviews haben wir erfahren, dass sich politische Entscheidungsträger davor scheuen, Familien mit Kindern auf der Straße landen zu lassen." Bei der Vermeidung von Obdachlosigkeit spielen zivilgesellschaftliche Organisationen eine große Rolle, wie Ataç erklärt: "Für Wien übernimmt etwa das Ute Bock Haus eine wichtige Funktion für Personen ohne Status."

Ataç zur Semesterfrage: "In einer Demokratie stellt sich die Frage, wer zum Demos gehört und wer über den Zugang zu Mitgliedschaftsrechten entscheidet. Durch transnationale Migrationsbewegungen wird das enge Staatsbürgerschaftskonzept herausgefordert und ausgedehnt. Internationale Rechtsnormen und Gerichtsentscheidungen spielen eine Rolle, aber auch lokale Inklusionspraktiken und Forderungen nach Mitbestimmung. Demokratie bleibt ein Ergebnis von umkämpften Prozessen." (Foto: Faces of Attac)

Der Bund und die Gemeinden

"Der Zugang zu Notversorgung im Krankheitsfalle und Grundschulbildung ist eher gegeben als der Zugang zu Unterkunft. Gesundheit und Bildung sind viel stärker durch internationale Normen gewährleistet, die Unterbringung obliegt mehr der nationalen Politikgestaltung", zieht Ataç Bilanz.

Vor Ort werde häufig pragmatischer gehandelt, um Obdachlosigkeit und Verarmung zu verhindern. Für Rosenberger entstehe so eine Spannung zwischen dem, was nationalstaatlich an Strenge und Ausschluss signalisiert wird, und dem, wie auf lokaler Ebene in sozialpolitisch brisanten Situationen gehandelt werde. "Diese Menschen haben keine legalen Möglichkeiten, sich einen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Arbeitsmarkt ist für sie geschlossen – in allen drei untersuchten Ländern. Die politische Konsequenz ist, dass sie sozial unterstützt werden müssen." Eine politische Lösung des Problems sieht Rosenberger im Schaffen einer Perspektive: "Sobald sich herausstellt, dass Personen aus technischen oder humanitären Gründen nicht abschiebbar sind, sollte den Betroffenen ein Aufenthaltsstatus ermöglicht werden." (pp)

Jedes Semester stellt die Universität Wien ihren WissenschafterInnen eine Frage zu einem Thema, das die Gesellschaft aktuell bewegt. In Interviews und Gastbeiträgen liefern die ForscherInnen vielfältige Blickwinkel und Lösungsvorschläge aus ihrem jeweiligen Fachbereich. Die Semesterfrage im Wintersemester 2017/18 lautet "Was ist uns Demokratie wert?". Zur Semesterfrage

Das Projekt "Die Produktion sozialer Mitgliedschaft für nicht-abgeschobene MigrantInnen" unter der Leitung von Univ.-Prof. Sieglinde Rosenberger und der Mitarbeit von Dr. Ilker Ataç, Sabine Koppes, Victoria Reitter und Theresa Schütze wird von 1.1.2015 bis 31.5.2018 durchgeführt und vom FWF gefördert.