Krankheiten im Gehirn erkennen
| 04. November 2015Lassen sich psychische Krankheiten anhand von bestimmten neurobiologischen Markern im Gehirn erkennen? Ein interdisziplinärer Forschungscluster der Universität Wien und der MedUni Wien nutzt modernste Verfahren der Bildgebung, um diese und andere Rätsel der menschlichen "Schaltzentrale" zu lüften.
"Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen zeigen einen kontinuierlichen Trend nach oben und werden zu einer immer größeren Belastung – sowohl für das Individuum als auch für das Gemeinwesen", erklärt Claus Lamm, stv. Vorstand des Instituts für psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden und Leiter der Social, Cognitive and Affective Neuroscience (SCAN) Unit an der Fakultät für Psychologie. Der Professor für biologische Psychologie ist einer von zwei Leitern des interuniversitären Forschungsclusters von WissenschafterInnen der Universität Wien und der Medizinischen Universität – offizieller Titel: "Multimodal Neuroimaging in Clinical Neurosciences (MMI-CNS)".
Die Leitung des Clusters teilt sich Lamm mit Rupert Lanzenberger, Professor an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. "Wir sind eine interdisziplinäre Forschungsgemeinschaft mit dem Ziel, die Expertise im Bereich kognitiver Neurowissenschaften, Bildgebung des Gehirns und Psychiatrie an einer Stelle zu bündeln und eine Brücke zwischen der Grundlagenforschung und der patientenorientierten Forschung zu schlagen", betont der Psychologe von der Universität Wien.
Ins Leben gerufen wurde der interdisziplinäre Forschungscluster schon im Mai 2011 mithilfe einer finanziellen Anschubförderung beider Wiener Universitäten. "Die Anschubfinanzierung ist nach drei Jahren ausgelaufen. Der Cluster hat sich aber so hervorragend entwickelt, dass er sich mittlerweile weitgehend selbst finanziert und von den beteiligten Forschungsgruppen mitfinanziert wird", freut sich der Mediziner Lanzenberger.
Die Universität Wien und die MedUni Wien betreiben sechs gemeinsame Forschungscluster, um neue Brücken zwischen Grundlagenforschung und patientenorientierter Forschung ("bench-to-bedside") zu schlagen. Alle Informationen
Revolution der Diagnostik und Therapie
Das Thema, mit dem sich die WissenschafterInnen dieses Forschungsclusters beschäftigen, könnte letztendlich eine Revolution in der Diagnostik und Therapie von psychischen Erkrankungen einläuten. "Im Moment sind sowohl die Diagnose als auch die Prognose für den Erfolg bestimmter Behandlungsmethoden wie Psychopharmakotherapie und Psychotherapie bei diesen Krankheiten eingeschränkt ", schildert der Mediziner. Dabei beruhe etwa die Diagnostik zumeist lediglich auf subjektiven Symptomen.
Gerade hier setzt der innovative Ansatz der Wiener WissenschafterInnen an. "Wir gehen davon aus, dass sich psychiatrische Krankheiten mittels bestimmter neurobiologischer Marker im Gehirn aufspüren und unterscheiden lassen. Von besonderem Interesse sind Biomarker aus der Bildgebung des Gehirns für die Prognose des Therapieerfolges", erläutert Psychologe Lamm. Gleichzeitig ist das Finden von Biomarkern auch ein wichtiger Schritt, um ein besseres Verständnis von den Zusammenhängen im Gehirn zu erlangen.
Biomarker werden in der Medizin bereits seit längerer Zeit genutzt und beispielsweise bei der Analyse des Blutbildes als Indikatoren für Krankheiten herangezogen. "Wir versuchen, solche Marker auch für psychische Störungen im Gehirn zu finden. Das ist ein brandaktuelles Forschungsthema", so der Mediziner Lanzenberger. (Foto: flickr.com/Ed Uthman)
Nadel im Heuhaufen
Doch wie lassen sich diese Marker im Gehirn überhaupt aufspüren? "Das ist ein wenig wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen", meint Lamm. Denn jedes Gehirn ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. "Ein Biomarker kann zum Beispiel die Aktivität in einer bestimmten Hirnregion bei Ausführung einer bestimmten Aufgabe sein. Wir wollen herausfinden, ob es Regionen im Gehirn gibt, wo sich etwa Personen mit Depressionen von gesunden Menschen unterscheiden. Wenn es Unterschiede gibt, stellt sich die Frage, ob sich ein bestimmtes Muster finden lässt, das es bei allen Menschen ermöglicht, bestimmte psychische Störungen erkennen und unterscheiden zu können", erläutert der Experte.
Um dieses Rätsel lösen zu können, stellen die ForscherInnen im Rahmen einer klinischen Studie sowohl gesunden als auch psychisch erkrankten ProbandInnen mehrere konkrete Aufgaben und beobachten währenddessen die Veränderungen in der jeweiligen Gehirnaktivität. Für diesen Blick in die menschliche "Schaltzentrale" kombinieren sie modernste Bildgebungsverfahren: "Indem man beispielsweise eine Magnetresonanztomografie (MRT) mit einer Elektronenzephalografie (EEG) verknüpft, erhält man nicht nur Informationen, wo genau etwas passiert, sondern auch wann.", erläutert Lamm.
Falls Sie schon immer einmal einen Blick in Ihr eigenes Gehirn wagen wollten: Für ihre klinische Studie suchen die Forscher noch ProbandInnen, v.a. Personen, die an akuter Depression leiden, aber auch gesunde KontrollprobandInnen. Informationen gibt es auf der Seite "How to become a volunteer" oder per E-Mail an neuroimaging(at)meduniwien.ac.at.
Internationale Spitzenklasse
Mit ihrem methodischen Ansatz spielen Lamm, Lanzenberger und ihre KollegInnen vom Forschungscluster international in der Spitzenklasse mit. "Es gibt nur sehr wenige Forschungszentren weltweit, die neuronale Veränderungen im menschlichen Gehirn auf die Weise untersuchen wie wir das tun", stellt Lamm klar. "Unser Team betreibt sehr intensive Forschungsarbeit, trifft sich regelmäßig und ist auch international sehr gut vernetzt", betonen der Psychologe und der Mediziner, die PhD-StudentInnen oder Post-docs zum Mitmachen einladen: "Interessierte mit Ausbildung im Bereich Psychologie oder der klinischen Neurowissenschaften können sich jederzeit bei uns melden." (ms)
Der Forschungscluster "Multimodal Neuroimaging in Clinical Neurosciences (MMI-CNS)" ist eine interdisziplinäre Kooperation zwischen der Universität Wien und der MedUni Wien. Als wissenschaftliche Leiter fungieren Univ.-Prof. Mag. Dr. Claus Lamm, stv. Vorstand des Instituts für psychologische Grundlagenforschung und Forschungsmethoden der Fakultät für Psychologie und Leiter der Social, Cognitive and Affective Neuroscience Unit an der Fakultät für Psychologie der Universität Wien, und Assoc.-Prof. PD Dr. Rupert Lanzenberger, MD (Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien). Mitglied des Kernteams ist zudem der Physiker Assoc.-Prof. PD Dr. Christian Windischberger, PhD (MR Exzellenzzentrum, Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik, MedUni Wien).