Himalayaforschung: Grenzüberschreitendes Initiativkolleg

Im interfakultären Initiativkolleg "Kulturtransfer im Grenzgebiet des Himalaya" werden Grenzen untersucht – nicht als Hindernisse, sondern als Schnittstellen und Übergänge. Im Zentrum steht die Reise von Kulturgütern, Bildern, Ritualen, Texten, Ideen. Aber auch das Überwinden disziplinärer Grenzen.

Der Himalaya ist eine Region der Grenzen: geographischer, politischer, physischer, sprachlicher, religiöser. Vor allem aber ist er ein Gebiet der Grenzüberschreitungen, und darunter ist das Bezwingen des Mount Everest vielleicht die bekannteste, aber lange nicht die spannendste – zumindest nicht in den Augen der zehn NachwuchswissenschafterInnen, sie seit 1. März 2011 im Rahmen des Initiativkollegs "Kulturtransfer im Grenzgebiet des Himalaya" an ihren Dissertationen arbeiten.


Dieser Artikel erschien im Forschungsnewsletter Mai 2012
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"Dass der Himalaya das höchste Gebirge der Welt ist, heißt nicht, dass es keine Handelswege über die Gebirgspässe hinweg gegeben hätte. Im Gegenteil", sagt IK-Sprecher Martin Gaenszle vom Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde: "Nepal zum Beispiel importierte sein Salz jahrhundertelang aus Tibet – im Tausch gegen nepalesisches Getreide. Diese Handelsbeziehung wurde erst mit der Schließung der Grenzen im Rahmen der chinesischen Besetzung Tibets abgebrochen."

Kultureller Tauschhandel

Nun reisen Handelswaren nicht ohne Menschen – und Menschen nicht ohne Ideen und kulturelle Güter. Im IK werden verschiedenste Aspekte von kulturellem Austausch – in Geschichte und Gegenwart – beleuchtet. "Das können Bilder, Alltagsgegenstände, religiöse Ideen oder Pilgerrouten sein", veranschaulicht Gaenszle die inhaltliche Bandbreite: "Im Bereich der Buddhismuskunde ist beispielsweise der Transfer von Texten sehr wichtig, mit dem sich einige Projekte im Rahmen des IK beschäftigen. So hat es im Himalaya im Laufe der Einführung des Buddhismus eine immense Übersetzungsgeschichte gegeben. Ganze Bibliotheken wurden von Indien her nach Nepal und Tibet gebracht und über Jahrhunderte hinweg übersetzt und dabei auch verändert."

Von Pilgerwegen ...

Kollegiat Hans-Jürgen David – er hat an der Universität Wien Vergleichende Religionswissenschaft studiert – untersucht interkulturelle historische Beziehungen im Wallfahrtsort Badrināth. "Obwohl der Tempel auf 3.100 Metern Meereshöhe mitten im Himalaya liegt, wird er jährlich von rund 750.000 Pilgern besucht. Damit ist Badrināth einer der wichtigsten Wallfahrtsorte Indiens", schildert der Nachwuchsforscher.


Hans-Jürgen David interessiert sich v.a. dafür, wie der historische Kontakt zwischen tibetischen und indischen Pilgern und britischen Kolonialherren das religiöse Leben in der Region Badrināth beeinflusst hat.



... zu Architekturtraditionen

Seine IK-Kollegin Natasha Kimmet hingegen stammt aus England und ist im Fach Kunstgeschichte zu Hause. Im Rahmen des IK beschäftigt sie sich mit historischen und gegenwärtigen Architekturtraditionen in der Region Mustang in Nepal.


"Wie wirken sich Politik, Tourismus und Entwicklung auf Bau und Nutzung von Wohnhäusern und anderen Gebäuden aus?", fragt die junge Kunsthistorikerin Natasha Kimmet, die nach ihrem Abschluss in Kunstgeschichte und Archäologie an der School of Oriental and African Studies in London an die Universität Wien kam und von Deborah Klimburg-Salter vom Institut für Kunstgeschichte betreut wird.



Interdisziplinarität im Fokus

Der Großteil der Dissertationsprojekte liegt an den Schnittstellen der Disziplinen. Passend zum Thema, meint Martin Gaenszle: "Das IK beschäftigt sich mit dem Thema Grenzüberschreitung, und das bezieht sich auch auf disziplinäre und konzeptuelle Grenzen." Insgesamt versammelt das strukturierte Doktoratsprogramm acht Fachbereiche – Kunstgeschichte, Südasienkunde, Tibetologie, Buddhismuskunde, Kultur- und Sozialanthropologie, Numismatik, Iranistik und Geographie. Das führt nicht nur zu lebhaften Diskussionen – "etwa wenn es darum geht, im IK-Seminar Begriffe wie Akkulturation oder Synkretismus zu definieren", schmunzelt Gaenszle – das beflügelt und bereichert auch. Und hat zudem ganz praktische Vorteile, wie Hans-Jürgen David berichtet: "Im Himalaya begegnet man vielen Sprachen. Da ist es gut zu wissen, dass zwei Türen weiter jemand sitzt, der Hindi bzw. Nepali spricht oder einen Text aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzen kann."


Wer z.B. Hilfe bei der Übersetzung eines Hindi-Texts braucht, schaut schnell im Arbeitszimmer von Lobsang Tenpa vorbei, das sich der IK-Teilnehmer und Tibetkundler mit der italienischen Kunsthistorikerin Aurora Graldi teilt. Tenpa forscht zur historischen und kulturellen Bedeutung der indischen Bergregion Mon-Tawang als Grenzgebiet zwischen Indien, Tibet und Bhutan. Aurara Graldi untersucht buddhistische religiöse Bilder und rituelle Objekte von Newār-Künstlern aus dem nepalesischen Kathmandu-Tal.
Alle KollegiatInnen und ihre Projekte



"Hier entstehen sinnvolle Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit", fügt der IK-Sprecher hinzu. Denn Austausch wird im IK großgeschrieben: Neben der Teilnahme am IK-Seminar – im laufenden Semester zum Thema "Kulturelle Hybridität" – treffen sich die KollegiatInnen monatlich mit der Faculty, um den Fortschritt der Projekte zu diskutieren. Abgerundet wird das Curriculum durch regelmäßige Gastvorträge und Workshops mit internationalen ExpertInnen.

Wiener Tradition der Himalayaforschung

Martin Gaenszle freut sich besonders, dass es den Studierenden durch ein Reisebudget im Rahmen des IK auch möglich ist, vor Ort zu recherchieren – sei es in Südasien oder in einschlägigen Bibliotheken und Archiven anderer Länder.


Der Großteil der Projekte im Rahmen des IK basiert auf Feldforschungen; viele Studierende waren bereits vor Ort und haben jede Menge spannendes Material mitgebracht. Im Bild das Dorf Kag und der Fluss Kali Gandaki in der Region Mustang in Nepal. (Foto: Zaq Landsberg).



"Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass unser Kolleg mit der 'Interfakultären Forschungsplattform und Dokumentationsstelle für die Kulturgeschichte Inner- und Südasiens' sowie dem FWF-Nationalen Forschungsnetzwerk 'Die Kulturgeschichte des Westlichen Himalaya seit dem 8. Jahrhundert' – beide unter der Leitung von Deborah Klimburg-Salter – verbunden ist."

Damit sei nicht nur eine fruchtbare, interdisziplinäre Zusammenarbeit möglich, die Studierenden würden auch von bereits bestehenden internationalen Netzwerken profitieren, so Martin Gaenszle. Sein Ziel ist es, jungen WissenschafterInnen Motivation und Chancen für eine akademische Karriere im Bereich Südasienkunde und "Borderland Studies" zu eröffnen – und damit langfristig die lange Tradition der Himalayaforschung in Wien erfolgreich weiterzuführen. (br)

Das Initiativkolleg "Kulturtransfer und interkulturelle Kontakte im Grenzgebiet des Himalaya" läuft seit 1. März 2011. Sprecher ist Univ.-Prof. Dr. Martin Gaenszle, M.A. vom Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde.