Die letzte Nacht der Zarenfamilie

Nach seiner Abdankung als Zar wurden Nikolai II. und seine Familie aus Sankt Petersburg verbannt. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurden sie hingerichtet. Historiker Wolfgang Mueller vom Institut für Osteuropäische Geschichte erklärt, warum sich bis heute Mythen um die Romanows ranken.

uni:view: Die Februarrevolution beendete das Jahrhunderte währende Zarenreich. Wie war die politische Lage in Russland am Vorabend der Revolution 1917?
Wolfgang Mueller:
Angespannt. Das Land befand sich in einem Krieg, der weniger schnell und leicht von der Armee und der Führung Russlands bewältigt werden konnte, als man es 1914 angenommen hatte. Das führte zu Niederlagen, Versorgungsproblemen und einer sinkenden Akzeptanz der Regierung.

Wolfgang Mueller forscht am Institut für Osteuropäische Geschichte zur Sowjetischen Geschichte, dem Kalten Krieg und der Geschichte des Politischen Denkens in Russland. (© Universität Wien/Barbara Mair)

uni:view: Welche Änderungen gab es nach der Februarrevolution?
Mueller:
Der Zar dankte nach einer relativ kurzen Demonstrations- und Unruhephase ab und liberale Kräfte errichteten ein einigermaßen demokratisches, provisorisches Regime. Allerdings gelang es diesem Februarregime nicht, Russland aus dem Krieg zu führen, was dazu beitrug, dass es im Oktober 1917 durch einen Putsch der Bolschewiki beseitigt wurde.

uni:view: Wie konnten die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht ergreifen?
Mueller:
Die provisorische Regierung in Folge der Februarrevolution hatte eine ganze Reihe von Problemen gelöst. Auch Forderungen der Bolschewiki wurden in Angriff genommen und die soziale Lage verbessert. Aber der Krieg wurde nicht beendet. Hier war die provisorische Regierung wirtschaftlich zu stark von Großbritannien und Frankreich abhängig, um aus dem Krieg aussteigen zu können. Das konnten die Bolschewiki nutzen, um Stimmung gegen die provisorische Regierung zu machen und gewaltsam die Macht im Staat zu erringen.

uni:view: Wie erging es der Zarenfamilie nach dem Putsch?
Mueller:
Die Zarenfamilie war bereits in Folge der Februarrevolution von der provisorischen Regierung festgehalten worden – zuerst noch in einem Schloss. Später wurde sie in die russische Stadt Tobolsk ins Exil gebracht, wo sie anfangs noch relativ gute Lebensbedingungen hatten. Die Familie konnte spazieren gehen, hatte Diener und Adjutanten und war mit Familienangehörigen in Kontakt. Ab dem Frühjahr 1918 begann sich die Lage signifikant zu verschlechtern.

uni:view: Warum?
Mueller:
Die zentrale Führung der Bolschewiki um Lenin und Trotzki dürfte einen Schauprozess gegen den Zaren geplant haben. Deshalb hatte die Parteiführung Vorbereitungen getroffen, um Nikolaus nach Moskau zu bringen und ihn dort anzuklagen. Die Familie wurde daher nach Jekaterinburg verlegt und ihr Bewegungsspielraum eingeschränkt. Die andere Entwicklung, die auf die Lage des Zaren einwirkte, war der beginnende Bürgerkrieg in Russland, der im Sommer 1918 von einer starken Konfrontation zwischen den Bolschewiki und den in Russland befindlichen ausländischen Einheiten begleitet wurde. Die tschechoslowakische Legion, die auf Seiten der Armee Russlands gekämpft hatte, sollte von den Bolschewiken entwaffnet werden. Daraus entstand ein Aufstand, der schnell auch den Raum erfasste, in dem sich Teile der exilierten Zarenfamilie befanden. Vor diesem Hintergrund wuchs in der kommunistischen Partei der Druck, die Zarenfamilie zu beseitigen.

uni:view: Wussten der Zar und seine Familie, was ihnen bevorstand?
Mueller:
Die Eltern, Nikolai und Alexandra, versuchten, eine gute Stimmung aufrechtzuerhalten. Wenn sie sich unmittelbar an Leib und Leben bedroht gefühlt haben, so haben sie das laut Zeitzeugenberichten nicht vermittelt. Es gab keine Panik, als die Familie am 17. Juli um 1.30 Uhr geweckt und aufgefordert wurde, in das Untergeschoss des Hauses zu gehen. Die Bolschewiken sagten ihnen, es gäbe Unruhen und man müsse die Familie zu ihrer Sicherheit in das untere Geschoss bringen. Erst als die Familie im hintersten Zimmer des Untergeschosses versammelt war, wurde ihnen vom Erschießungskommando eröffnet, dass sie jetzt hingerichtet werden. Daraufhin soll der Zar noch ein, zwei Worte gesagt haben, bevor das Massaker begann. Nach einer dreiminütigen Schießerei und etwa zwanzig Minuten Stechen und Hauen mit Bajonetten und Gewehrkolben waren alle tot.

uni:view: Was hat die Öffentlichkeit über die Ermordung der Familie erfahren?
Mueller:
Die kommunistische Partei hat wenige Tage später eine Art Presseaussendung veröffentlicht. Darin hieß es, dass es eine Verschwörung zur Befreiung des Zaren gegeben hätte und der Beschluss gefallen sei, den Zaren hinzurichten. Die Familie des Zaren, seine Gemahlin und seine Kinder, seien aber weiterhin am Leben und in Sicherheit. Die Bevölkerung wurde falsch informiert; und da es keine anderen Informationsmöglichkeiten gab, wurde diese Meldung auch von der nationalen und internationalen Presse aufgegriffen.

uni:view: Wie waren die Reaktionen auf den Tod des letzten Zaren?
Mueller:
Der Zarenmythos war zu dieser Zeit schon fast vollständig zusammengebrochen. Aus den Städten wurde berichtet, dass die Nachricht von der Bevölkerung mit Häme oder Spott kommentiert worden sei. Es ist anzunehmen, dass die Stimmungslage in der ländlichen Bevölkerung eine andere war. Allerdings war sogar den monarchistischen Bewegungen in Sowjetrussland klar, dass mit dem Zaren kein Staat mehr zu machen sei. Nur sehr wenige hätten damals eine Wiederherstellung der zarischen Autokratie in Erwägung gezogen.

uni:view: Wie geht Russland heutzutage mit dem Schicksal der Zarenfamilie um?
Mueller:
Das Regime hat nach der Ermordung versucht, die Erinnerung an die Zarenfamilie auszulöschen und alle Spuren zu beseitigen. Die sterblichen Überreste wurden mit Säure und Benzin übergossen, verbrannt und verscharrt. Das Haus, in dem sich die Familie bis zuletzt aufgehalten hatte, das Ipatew-Haus, wurde in den 70er Jahren abgerissen, nachdem es sich zu einer Art Wallfahrtsstätte entwickelt hatte. Erst in den 90er Jahren gab es Versuche einer Rehabilitierung. Allerdings hat das nicht funktioniert, weil es ja nie einen Prozess oder eine Verurteilung gab. Letztlich wurde Nikolai durch die russisch-orthodoxe Kirche heiliggesprochen.

Die heutige Einschätzung des Zaren ist allerdings nicht besonders positiv. In Umfragen und Medien wird er als eher schwacher Zar dargestellt. Ihm wird die Niederlage im Ersten Weltkrieg angelastet und der beginnende Zerfall seines Reiches. Das schlägt sich auch in der Populärkultur nieder – Nikolai zählt nicht zu den Lieblingsfiguren der russischen Bevölkerung.

uni:view: Lange Zeit hielt sich der Mythos, dass nicht alle Kinder der Zarenfamilie in dieser Nacht ums Leben gekommen sind. Einige Frauen gaben sich als Anastasia Romanow aus. Wie konnte die Legende so lange bestehen bleiben?
Mueller:
Glanz und Gloria gekrönter Häupter haben immer eine große Anziehung, davon kann man sich bei jeder "Royal Wedding" überzeugen. Verstärkt wurde dies durch die tragischen, aber auch geheimnisumwobenen Ereignisse der Mordnacht. Insbesondere die Unklarheit, wer wirklich dieser Ermordung zum Opfer gefallen ist, führte zu all diesen Mythen. Das Gerücht, dass Anastasia als einzige entkommen sei, konnte durch forensische Untersuchungen nach Ende der Sowjetunion zu 99 Prozent widerlegt werden.

uni:view: Vielen Dank für das Gespräch! (pp)